13.06.2023
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11 Min

ALtersansprache bei Böcken

Zwischen Wunsch und Wirklichkeit

Es gibt zahlreiche Merkmale, die es möglich machen sollen, einen Rehbock auf sein Alter hin anzusprechen. Doch welche davon taugen wirklich, und wie genau sind die Rückschlüsse, die sie zulassen? Peter Schmitt

Zwischen Wunsch und Wirklichkeit

Bild: Rafal Lapinski

Zeitpunkt des Verfärbens

Gerade in den ersten Wochen der Bockjagdsaison ist nach Lehrmeinung der Zeitpunkt bzw. der Grad des Verfärbens ein zuverlässiges Kriterium, um das Alter des Bockes zu taxieren. „Alte Böcke verfegen früh und verfärben spät, junge Böcke verfegen spät und verfärben früh“, so oder ähnlich lauten die Merksprüche für den angehenden Jungjäger. Tatsächlich stimmt es auch, dass Jung vor Alt verfärbt, aber nur in dem Maße, dass sich dadurch im Frühjahr der Jährling sicher vom Mehrjährigen unterscheiden lässt. Es ist aber mitnichten so, dass sich darüber hinaus das genaue Alter bestimmen lässt, also der 3- vor dem 5-Jährigen verfärbt. Der Haarwechsel wird durch eine ­Anzahl altersunabhängiger Parameter beeinflusst.

 


Zeitpunkt des Verfegens

Viele vermeintliche jagdliche Erkenntnisse werden von Generation zu Generation übernommen und nur wenig hinterfragt. Das gilt unbestritten auch für die These, dass sich das Alter eines Bockes anhand des Fegedatums einordnen lassen könne. Das würde voraussetzen, dass sich das Fegedatum des einzelnen Bockes mit steigendem Alter im Laufe der Jahre immer weiter nach vorn verlegt. Dem widersprechend hat der Rehwildexperte, WuH- sowie Fachbuchautor Wolfram Osgyan anhand markierter Rehe aufgezeigt, dass eine solche Verschiebung nicht stattfindet und es somit keine Grundlage für dieses Ansprechmerkmal gibt. Zwar können die Fegetermine eines Bockes von Jahr zu Jahr durchaus um wenige Tage bis hin zu einem Monat schwanken. Dabei sind aber keine Gesetzmäßigkeiten in eine zeitliche Richtung zu erkennen. Im Gegenteil wurden bei vielen markierten Böcken mit höherem Alter sogar spätere Fegezeitpunkte festgehalten. Zum Augenöffnen beispielhaft ein Fall aus den berühmten Rehwildrevieren Frank Riegers: Dort fegte ein 2-jähriger Bock am 12. März, sein ebenfalls markierter Zwillingsbruder aber erst am 29. – also trotz gleichen Alters erst 17 Tage später. Die einzige Hilfestellung, die zum Ansprechen des Bockes aufgrund des Fegetermins als Ansprechmerkmal herangezogen werden kann, ist, dass abgesehen von Rehen in schlechter Verfassung ab Mai in der Regel nur noch Jährlinge Bast tragen. Die können zu diesem Zeitpunkt jedoch auch schon längst gefegt haben.

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Alte Böcke fegen früh – eine Regel, die keinerlei Grundlage hat. (Bild: Michael Breuer)

Höhe der Rosenstöcke

Jedes Mal, wenn ein Cervide sein ­Gehörn abwirft, wird eine Schicht des Rosenstockes unterhalb der Rosen aufgelöst. So werden sie tatsächlich von Jahr zu Jahr kürzer. Zudem nimmt der Rosenstockdurchmesser vor allem in den ersten beiden Lebensjahren zu. Während sich der am lebenden Stück nicht bestimmen lässt, kann die Höhe der Rosenstöcke in Kombination mit anderen Merkmalen ein wichtiges Ansprechkriterium sein. Vor allem der recht junge (sehr hohe Rosenstöcke) und der sehr alte Bock (sehr niedrige Rosenstöcke) lassen sich daran meist gut erkennen, auch wenn die Ausnahme der Regel durchaus vorkommt. Im Gegensatz zum Hirsch ist diese Ausprägung beim kleineren Rehbock nicht immer leicht zu erkennen. Ein gutes Glas oder gar Spektiv helfen da weiter.

 


Dachrosen

„Dachrose, die; die dachförmig, d. h. nach unten gezogene Rose des Gehörns meist alter Rehböcke.“ Zwar relativert Walter Frevert seine Definition dieses Altersmerkmals bereits selbst, aber bis heute hält sich der Glaube, dass Dach­rosen die Bestätigung für einen reifen Bock seien. Tatsächlich sind sie eine ­individuell veranlagte Erscheinung, die eher genetisch als altersbedingt begründet ist. Ausgeprägte Dachrosen können aber dazu beitragen, die Rosenstock­höhe eines Bockes niedriger als in Wirklichkeit einzuschätzen. Sie sind kein ­zuverlässiges Altersmerkmal.

 


Muffelfleck, Maske, Brille

Es findet sich kein Beleg, doch nach wie vor hält sich hartnäckig das Gerücht, dass der Muffelfleck über dem Windfang ein Indiz für den jungen Mehrjährigen ist. Daneben finden sich noch andere Mythen zur Gesichtsfärbung: Die Brille um die Lichter sei ein Merkmal des Mittelalten, im Gesicht oft auch sehr bunten Bockes. Und der reife wird oft als „eselsgrau“ beschrieben. Tatsächlich gibt es keinerlei Grundlage für diese vermeintlichen Regeln. Im Gegenteil: So belegen Untersuchungen an Gatter­rehen, dass sich Gesichtsfärbung bzw. Maske zwar verändern, aber nicht im jährlichen Turnus, was die Grund­lage für ein Altersmerkmal wäre. Die Farb- und Zeichenveränderungen finden mehrfach innerhalb weniger Monate statt, und das über alle Altersklassen hinweg. Es wird vermutet, dass sie ­hormonell gesteuert werden. Denn die gravierendsten Veränderungen treten um die Brunft herum auf. Also: Die ­Gesichtsfärbung ist als regelmäßiges Ansprechmerkmal für das Alter eines Bockes nicht geeignet.

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Muffelfleck und Brille – über das Alter geben sie keine Auskunft. Die Gesichtsfärbung ändert sich jährlich mehrmals. (Bild: Michael Breuer)

Körperbau

Wie bei anderen Schalenwildarten ändert sich auch beim Rehwild der Körperbau mit der Zeit. Generell legt dabei das grazile Jährlingsböckchen immer mehr an Masse zu. Die auffälligsten Veränderungen treten im ersten Lebensabschnitt auf. So erfolgt bspw. der Großteil des Schädelwachstums vom kurzen, schmalen Kitz- bzw. Jährlingshaupt zu dem des ausgewachsenen ­Bockes in den ersten 3 Lebensjahren. Auch deshalb erscheinen die Lauscher des Jährlings vergleichsweise groß. Sehr auffällig ist zudem die im Körperwachstum begründete Veränderung der Laufstellung bzw. des Rumpfes. Die stelzig wirkenden Läufe von Jährling und Schmalreh (Namensgebung!) wirken, als stünden sie eng und parallel unter dem Wildkörper. Beim ausgewachsenen Reh, also dem älteren Stück, ändert sich deren Stellung aufgrund des nun deutlich voluminöseren Brustkorbs, der sich visuell zwischen die Vorderläufe schiebt. Zudem wirken die Läufe aufgrund des größeren Torsos im Vergleich kürzer. Ein weiteres Altersindiz ist der Träger. Während man den dünnen Spargel des erlegten Jährlings und manchem schwachen 2-Jährigen mit einer Hand fast umgreifen kann, sieht das beim älteren Bock ganz anders aus. Durch das vollendete Wachstum und die verlagerte Masse ins vordere Körperdrittel des reifen Bockes wirkt der gerade getragene Träger deutlich kürzer und voluminöser. Zudem prägt sich ein immer deutlicher Vorschlag aus. Bei wirklich reifen Böcken ragen durch den gesenkten Rücken die Blätter über die Rückenlinie hinaus (Widerrist). Tatsächlich finden sich viele Parallelen zur Altersansprache beim Rot­hirsch. Wegen der geringen Größe sind viele Ausprägungen beim Reh aber nicht so gut ersichtlich. Trotzdem ist der Körper­bau mit all seinen Facetten grundlegend. Sicherlich lässt sich auch damit nicht der 3- vom 4-jährigen Bock unterscheiden. Eine Einteilung nach jung, mittelalt und alt ist aber mit etwas ­Erfahrung in vielen Fällen möglich.

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Die Unterschiede vom Jährling zum Mehrjährigen sind offensichtlich: Vorderläufe stehen noch unter dem Brustkorb, Lauscher wirken groß, da noch schmaler Schädel und Träger, Körper zierlich, weil noch nicht ausgewachsen. (Bild: Alexander Ahrenhold)
 

Verhalten

Das Verhalten als regelmäßigen Aspekt für eine Altersansprache heranziehen zu können, setzt ein natürliches, generelles Muster voraus. Das ist aber bspw. durch Besucher- und Jagddruck, Großprädatoren oder unterschiedliche Habitate überregional gar nicht möglich. Wie den „alten, heimlichen“ ausmachen, wenn sich generell kein Reh vor der Dunkelheit aus dem Busch traut? Ein allgemeines Ansprechmerkmal muss eine hohe Regelmäßigkeit aufweisen. In diesem Fall würde das voraussetzen, dass eine große Zahl an Individuen altersabhängig dasselbe Verhalten in bestimmten Situationen zeigt. Diese These spricht dem einzelnen Reh individuelles Verhalten weitgehend ab, was gegen ein funktionierendes Ansprechmerkmal spricht. Zudem verhalten sich Rehe über verschiedene Phasen im Jahreslauf komplett unterschiedlich.
Es gibt durchaus Situationen und Einzelfälle, in denen das Verhalten eines Stückes Rückschlüsse auf dessen Alter zulässt, bspw. der unbedarft tol­lende und naive Jährling. Aus Einzelfällen aber ein generelles, überregionales Muster für alle Altersklassen zu ­machen, ist schlichtweg unmöglich.

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Heimlich = reif? Vom Verhalten generell auf das Alter eines Rehs zu schließen, entspricht oft mehr der menschlichen Vorstellung als der Realität. (Bild: Marco Schütte)

Deckenfarbe

Als semmelgelb werden in der jagdlichen Literatur meist richtig alte Böcke umschrieben. Und tatsächlich kommen mir sofort 2, 3 meiner Uralt-Böcke ins Gedächtnis, die eine auffällig helle, fahle Deckenfarbe hatten. Allerdings waren weitaus mehr völlig unauffällig. Es kommt von Natur aus altersunabhängig zu verschiedenen Ausprägungen in der Deckenfarbe, die vom Jäger oft aber gar nicht wahrgenommen werden. ­Allein das macht es schwer, ein solches Kriterium als generelles anzusehen. Im Einzelfall kann es einer von mehreren Hinweisen auf das überalterte Stück sein. Ein alleiniges oder universelles Altersmerkmal ist die Deckenfarbe nicht.

 


Haupt- und Gesichtsausdruck

Alte Böcke schauen ernst – diese Umschreibung hört man immer wieder. Tatsächlich hat sie im bestimmten Maße eine anatomische Grundlage. Die Schädelentwicklung ist beim Rehwild mit der Verknöcherung aller Wachstumsfugen zwar erst mit etwa 5 Jahren abgeschlossen. Das eigentliche Wachstum erfolgt aber hauptsächlich in den ersten 2 bis 3 Lebensjahren. Das noch recht schmale, kleine Haupt des Jünglings räumt den Lichtern vergleichsweise viel Raum ein. Jährlinge wirken vom Gesichtsausdruck deshalb meist „freundlich“. Mit dem ausgewachsenen, deutlich breiteren und größeren Haupt des Mittelalten ändert sich das jedoch. Der Bock wirkt nach menschlichem Ermessen „ernst“. Allerdings gilt auch dieses Merkmal nur zur Unterscheidung von sehr jungen Böcken vom Rest.
 
 

Fazit: Wie bei allen anderen Wildarten gilt es auch beim Rehwild, möglichst viele Überschneidungen sinnvoller Ansprechmerkmale zu finden. Dazu muss man aber wissen, welche davon überhaupt eine reelle Grundlage haben und inwieweit sie was leisten können. Viele Aspekte helfen lediglich, den Jährling vom Mehrjährigen zu unterscheiden. Eine Aufgabe, der eigentlich jeder halbwegs erfahrene Waidmann eh auf den ersten Blick gewachsen ist. Mit etwas Übung ist eine grobe Einordnung von jung, mittelalt und alt in vielen Fällen durchaus möglich. Die geringe Körpergröße des Rehwilds mit hoher grund­legender optischer Homogenität bei gleichzeitig aber sehr individueller Ausprägungen bestimmter Details, macht es aber nahezu unmöglich, bei jedem Bock das Alter richtig oder gar auf das Jahr genau zu taxieren. Das kann man nur, wenn man das Stück aufgrund markanter körperlicher Merkmale oder durch Ohrmarken seit dem Kitz- oder Jährlingsalter kennt und über die Jahre begleitet hat.

Autor: Peter Schmitt