30.09.2023
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10 Min

Le Chameau

Wüstenschiffe für matschige Pisten

Seit über 40 Jahren schwört Wolfram Osgyan auf die mit Leder gefütterten Gummistiefel von Le Chameau. Bei einem Werksbesuch konnte er zudem das Geheimnis ihrer Qualität ergründen.

Wüstenschiffe für matschige Pisten

Bild: Hersteller

„Die müssen verrückt sein, 420 € für einen Gummistiefel“, schüttelt mein Begleiter entrüstet den Kopf, als er bei einer Shoppingtour das Preisschild entdeckt. „Und, reichen für den Mercedes da draußen auf dem Parkplatz 100 000 €, der dich so anmacht?“, frage ich zurück. „Ist ja ein Mercedes“, entgegnet er. „Und das ein Le Chameau“, kontere ich. In unserem Feld-Wald-Wiesen-Revier mit Lehmböden sind Gummistiefel das gebotene Schuhwerk. Sobald nämlich die Erde angefeuchtet ist, klebt sie, zäh wie Kleister, nach wenigen Schritten in den Acker als Klumpen an den Stiefeln und schmiert angetrocknet die Poren des Fußteils derart zu, dass man bei solchen mit Lederschaft aus dem aufwendigen ­Säubern und Putzen nicht herauskommt. Nachteilig bei Gummi­stiefeln wiederum wirkt sich der Umstand aus, dass Gummi nicht atmet, bei längerem Einsatz die Füße im Schweiß baden und die Socken sehr schnell für Zeitgenossen üble Gerüche ausdünsten. Das sollte sich ändern, und zwar fast auf den Tag genau vor 42 Jahren. Damals durfte ich das erste Mal in die mit Kalbleder gefütterten „Chasseur“ schlüpfen. Ein Aha-Erlebnis, denn die Passform, das ­bequeme Einsteigen bei geöffnetem Reißverschluss und v. a. der Gehkomfort mit leicht federndem, geräuschlosem ­ Auftritt überzeugten auf Anhieb. Seither begleiten mich die Le Chameau im Kofferraum tagtäglich bei Pirsch, Ansitz und Revierarbeiten. Dass ich in ihnen fast weniger schwitze als in Schnür­stiefeln, liegt an der Zwangsentlüftung, die der geöffnete Reißverschluss gewährt. Der hier üppige Wadentrichter bietet genügend Platz, selbst für dicke Winterhosen. Mit ihnen klopft auch der Schaft beim Gehen nicht. Und falls doch, zieht man den Reißverschluss hoch. Die Schnalle mit Druckknopf unterm Schaftabschluss macht hier Sinn, immer vorausgesetzt, dass die richtige Wadenweite gewählt wurde. Le Chameau offeriert innere Schaftumfänge zwischen 41 und 52 cm. Dieses für den perfekten Sitz und legendären Tragekomfort so wichtige Maß findet sich 2 Finger unterm Abschluss im Lederfutter eingeprägt und sollte bei jeder ­Bestellung neben der Schuhgröße angegeben werden. Apropos: Grundsätzlich empfiehlt es sich, 1 Nummer größer als bei den Straßenschuhen zu bestellen. Kommen gar dickere Socken in Betracht, dann 2 Nummern mehr. Für bestes ­Fußklima in den „Chasseurs“ – dem Jagdstiefel der Firma – sorgen solche aus reiner Alpakawolle. Sie saugen den Schweiß maximal auf, wärmen dennoch und bleiben längerfristig geruchsneutral. Leider sind sie weniger abriebfest als Woll- oder Baumwollsocken. Nachdem ich die Stiefel fast immer mit offenem Reißverschluss trage, stört mich das Geräusch des baumelnden Schaftriegels. Deshalb kappe ich ihn. Gelitten haben deswegen weder die Stiefel noch Träger. Doch sind die ­Le Chameau nichts für den reinen Waldjäger, denn sperrige, ­trockene Äste können sie ebenso lochen wie sie die Seitenwände eines ­Reifens aufzuschlitzen vermögen. Und: Für steiles ­Gelände sind sie nicht vorgesehen. Das hatte ich nicht bedacht, als ich mangels Alternativen mit der Kamera in der Hand einem Gamsrudel auf einem begrasten Steilhang folgte. Hinauf ging es dank des guten Sohlengrips problemlos, doch der Abstieg ohne Bergstock trieb mir wegen des fehlenden Seitenhalts im Knöchelbereich bei jedem Tritt die Angstschweißperlen auf die Stirn. Die schräg aufgesetzte Sohle drohte nämlich ständig wegzukippen. Also: Zur Nachahmung nicht empfohlen!

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Sohlenprofil links neu, Mitte nach 6 Jahren Einsatz, rechts nach über 10 Jahren Einsatz. Letzere sind glashart geworden. (Bild: Wolfram Osygan)

Nach 10 Jahren täglichen Einsatzes waren die Stiefel zwar noch wasserdicht, jedoch nur mehr eingeschränkt brauchbar, denn ihre abgenutzten Sohlen waren durch ständigen Gebrauch und v. a. durch die permanente Einwirkung von Stauhitze und Sonnenlicht im Auto glasig hart geworden und rutschten mehr, als sie griffen. Der Reißverschluss klemmte schon lange, was mich jedoch nicht störte. Verändert hatte sich ebenfalls die Farbe des Gummis in Richtung Schmutzig-Dunkelgrün, und die Schäfte der Stiefel blieben nicht mehr stehen sondern kippten erschlafft zur Seite. Damit war der Zeitpunkt gekommen, sich über einen Nachfolger ernsthaft Gedanken zu machen. Jagdfreund Thomas musste seine „Chasseurs“ übrigens erst nach 25 Jahren ausmustern. Allerdings kamen die seinen bei Weitem nicht so oft zum Einsatz wie die meinen und wurden dunkel sowie trocken gelagert. Keine Frage, hätte ich die Stiefel gemäß der Pflegeanleitung behandelt, zwischendurch mit Wasser sowie Bürste gereinigt, mit Silikonspray eingesprüht und den Reißverschluss von Zeit zu Zeit mit Stearin geschmiert, wäre ihr Gummi viel später rau und spröde geworden. In 2 Punkten habe ich mich jedoch nicht an den „Chasseurs“ versündigt: Sie wurden nie am Heizkörper getrocknet und nicht nass gelagert. Von den Nachfolgern ließ ich übrigens keinen eine ­Dekade alt werden und sortierte sie aus, wenn ihr ­Sohlenprofil nicht mehr griff. Was es in 40 Jahren bei meinen „Chasseurs“ zu reklamieren gab? Einmal brach relativ bald der Reißverschlusshebel ab, einmal riss der Untertritt oben ein, und bei mehreren löste sich nach jahrelangem ­Gebrauch die gummierte Schafteinfassung. Glück ­hatte ich, als beim Ausasten die Schneide des wuchtig geführten Zimmermannsbeils den Spann längs erwischte und im Lederfutter stecken blieb, und auch, dass Le Chameau den Schaden reparierte. Ein Tipp noch für Reißv­erschlussnutzer. Verlängert man den Hebel mittels Schnürsenkel, Lederschnur oder Schlüsselring, geht das Zuziehen leichter. Übrigens: Was Haltbarkeit und Elastizität des Gummis anbetrifft, fand ich bislang kein Konkurrenzprodukt, das dem „Chasseur“ mit Lederfutter auch nur annähernd das Wasser reichen konnte. Bei 2 namhaften, ebenfalls hochpreisigen Marken made in China machten nach kurzer Zeit die Reiß­verschlüsse die Grätsche, riss der Untertritt ein und brach v. a. das Gummi im Fußteil. Bedauerlich, denn deren Bodenstabilität sowie die Kälteisolierung wussten sehr wohl zu überzeugen. Sang- und klanglos verschwanden sie kurz nach Einführung wieder vom Markt.

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Wichtig: Die Wadenweite muss vorher gemessen und bei der Bestellung angegeben werden. Dann passt auch alles. (Bild: Hersteller)

Die Stiefel mit dem Kamel als Markenzeichen hingegen gibt es nunmehr schon fast 100 Jahre. 1927 setzte sich der junger Bretone Claude Chamot in den Kopf, die besten Gummistiefel für Landwirte und Fischer zu bauen. Er experimentierte, fand den Dreh und überzeugte mit seinen Erzeugnissen die anspruchsvolle Kundschaft. Und ­warum ausgerechnet ein Wüstenschiff als Logo für einen Gummistiefel? Bei der Einschulung verballhornten Klassenkameraden seinen Namen zu Le Chameau – das Kamel. Damit wusste sich Chamot ganz offensichtlich zu arrangieren. Das Geheimnis der Qualität beruht einerseits in der Auswahl der Rohstoffe, in deren Bearbeitung und nicht zuletzt in meisterlicher Handarbeit. Daran hat sich von Chamots Anfängen bis heute nichts geändert. Wohl aber, dass aus Kostengründen die Produktion von Frankreich weg zur Gänze in das frühere Zweigwerk nach Casablanca (Marokko) verlagert wurde. Vom Ausgangsprodukt Naturkautschuk verarbeitet Le Chameau nur die beste von 4 Güteklassen und bezieht sie mittlerweile ausschließlich von einer Plantage in Vietnam. Zur Weiterbehandlung walken und kneten Maschinen das Material und verändern dessen Struktur. Den nun schrumpeligen Klumpen wird sodann eine ausgewogene Mischung aus Chemikalien zugesetzt. Dabei spielt Schwefel für den späteren Vulkanisierungsprozess eine wichtige Rolle. Mit von der Partie sind außerdem Kieselsäure, Silikate, Zinkoxide u. a. als Füll­mittel, Stearin als Weichmacher, Alterungsschutzmittel und Farbstoffe. Auf die benötigte Stärke ausgewalzt, wandern die klebrigen Häute in die Stanzerei, wo die Teile paarweise ausgestochen werden. Kundige Hände fertigen auch das Futter aus Baumwoll-Jersey, Wollplüsch, Neopren sowie den Narbenspalt vom Kalbsleder, indem sie die Elemente Kante an Kante stoßen, diese mittels flüssiger Latexmilch zu Strümpfen verkleben und den Reißverschluss befestigen. Dann kommen die Leisten für Damen- und Herrenmodelle ins Spiel. Stiefelmacher stülpen das Futter darüber und „bepflastern“ dieses wiederum mit den gestanzten Teilen – hochkonzen­triert sowie in bewundernswerter Sicherheit und Geschwindigkeit. Produzieren sie dabei nur eine Falte oder Blase, waren alle Mühen umsonst, und das Stück wandert in den Abfall. Wie ich bei meinem Werksbesuch erfuhr, ist jedes Stiefelpaar das komplette Werk eines Spezialisten. Er konturiert auch mit dem Roulette, klopft behutsam die Sohlen auf, schneidet den Eingriff zum Reißverschluss und trennt mit einer Chirurgenschere sämtliche Überstände ab.

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Jeder Stiefel wird von einem Stiefelmeister in penibler Handarbeit mit vorgestanzten Teilen von innen nach außen aufgebaut. Hier fehlt nur noch die Sohle. (Bild: Hersteller)

Im Schnitt macht jeder Stiefelmeister, so die offizielle ­Bezeichnung, 25 Paar am Tag. Die allerbesten kommen auf bis zu 32. Chargenweise geht es nun ab in den Vulkanisierungsofen. Die Metamorphose vom Kautschuk zum Gummi vollzieht sich bei den mit Leder gefütterten Modellen innerhalb von 60 min. bei 100 °C, für Varianten mit anderem Futter gelten abweichende Vorgaben. Warm müssen anschließend die Stiefel vom Leisten gezogen werden, deshalb tragen die Arbeiter Schutzhandschuhe. Später wandern die „Chasseurs“ in den Kontrollraum, wo sie mittels Pressluft und Wasserbad Stück für Stück auf Dichtigkeit geprüft werden. Zuletzt kriegt der Reißverschluss noch sein Stearin weg, dann heißt es ab in den Karton. Die Tagesproduktion der gesamten Modellpalette liegt bei 800 Paaren und verteilt sich auf Fischerstiefel, ­Wathosen, Seglerstiefel, Stiefeletten, Jagd-, Landwirtschafts- und Freizeit-Versionen. Für die eine oder andere existieren durchaus Alternativen von Mitbewerbern, doch die mit Leder gefütterten „Chasseur“ sind auf dem Markt einzigartig und suchen qualitativ ihresgleichen. Schön, dass es sie auch ­heute noch gibt.

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Nicht nur anschauen, sondern benutzen: Durch regelmäßige Pflege lässt sich die Lebensdauer der Le Chameaus erheblich verlängern. (Bild: Wolfram Osgyan)

Autor: Wolfram Osgyan