Pommern
Septemberweben
Wenn die Getreideernte eingefahren ist und die Nächte kühl werden, dann entsteht eine Spannung, die etwas Großes, einen Höhepunkt ankündigt – die Hirschbrunft. Heiko Hornung erlebte den Zauber zwischen Feistzeit und dem Beginn der heiligen Tage.
Bild: Klaus-Herbert Schröter
Als ich vorsichtig die Autotüre hinter mir schließe und der schwere kiefernharzige Spätsommerduft mir in die Nase steigt, beginnt nicht nur die Pirsch. Es beginnt jedes Mal von Neuem der Traum eines Buben, der mit jeder Buchzeile Cramer-Klett, Perfall, Löns und all den anderen in seiner Phantasie folgte, nur dass die Bilder jetzt direkt in ihn fließen. Nicht als gelesen Geträumtes, sondern als selbst Erlebtes. Zum 2. Mal bin ich nach 12 Jahren wieder in Trzebielino. Diesem immer noch wildreichen, knapp 20 000 ha großen Forstamt in Pommern. Dem Ort, in dem der alte Bismarck die Liebe seines Lebens fand (s. WuH 2/2011) und ich in den Mooren und auf den großen Waldwiesen Bilder sah, die einem Jäger für immer bleiben.
Noch sind die heiligen Tage nicht angebrochen. Tagsüber ist es heiß, und die Nächte sind frisch. Das Blau des Himmels strahlt schon klarer. Die Stare und die Turteltauben sammeln sich. Kraniche rufen und piepen in großen Keilformationen Richtung Süden. Mit dem rauen Ruf der Kolkraben sind sie die Musikanten im Orchestergraben, die sich auf die große Symphonie vorbereiten, die dramatisch in den nächsten Tagen erklingen wird.
Noch sind die Helden der Oper nicht auf der Bühne. Versonnen dösen sie in den Einständen. Erst wenn das Licht schwindet, erscheinen ihre schwarzen Schatten auf den dunstigen Wiesen. Umkreisen flehmend die Schar der Weiber. Prüfen, wie groß die Bereitschaft der Tiere zum Duett ist, das ihren ganzen Auftritt verlangt. Wie Scherenschnitte gleiten sie durch den vom letzten Licht leuchtenden Nebel, wie durch unsichtbare Schnüre in einem Meer aus Weiß hin- und hergezogen. Nur gelegentlich legt der Hirsch das Haupt ins Genick und lässt sehnsuchtsvolles Knören vernehmen. Mehr eine Stimmprobe als volle Intonation. Es sind die mittelalten Tenöre. Die wahren Stars, die alten Bässe, kennen ihre Zeit. Wenn die Oper beginnt und die Overtüre vorbei ist, stehen sie plötzlich stimmgewaltig auf der Bühne.
Mich begleiten Jagdführer Jazek und mein Freund Jörg, der mir vor einer guten Dekade das Tor zu diesem Revier öffnete. Jazek, der gewiefte Förster, der immer noch den Schalk in seinen Augen hat, ist grau geworden. Der Leibesumfang ist nach einer Dekade auch nicht mehr der selbe. Aber sein Instinkt und sein Näschen sind eher noch schärfer geworden. Wir wollen ins sogenannte Saugatter schleichen. Seinen Namen hat diese Abteilung tatsächlich von einem einst fast 400 ha großen Gatter, in dem Schwarzwild gehortet wurde. Das ist schon lange Vergangenheit. Einen Zaun gibt es nicht mehr. Aber eine Senke, inmitten von 1 000 ha trockenem Kiefernwald, durch den sich ein klares Bächlein schlängelt, das links und rechts von Schilf, Wiesen und kleinen Erlengruppen gesäumt wird. Das Wasser und die frische Äsung, aber v. a. die Abgeschiedenheit und Ruhe machen das „Saugatter“ zu einem idealen Feisthirscheinstand. Selbst bei bestem Licht bummeln hier die Hirsche im Schilf, äsen, schöpfen, ruhen, grad so wie in einer gemütlichen Stube. Um die Senke herum haben die Förster einen Pirschweg wie einen Ring gelegt, von dem aus sich in rechtwinkligen Abzweigen gedeckt stehende Hochsitze, Aussichtspunkte oder Schirme erreichen lassen. Einer solchen, günstig im Wind stehenden Kanzel streben wir zu. Oben im trockenen Kiefernwald wechselten bereits einige Stücke Kahlwild. Er wird also Zeit.
Vorsichtig setzen wir auf dem sauber gefegten Steig Fuß um Fuß fort. Eine Fährte im Sand, ziemlich frisch, lässt uns anhalten. Es ist die eines Hirsches. Schön rund lässt sich fast die Hand hineinlegen. Die Spitzen der Schalen sind stumpf und fast etwas eingebogen. Der Fährtenverlauf auf dem Pirschweg zeigt einen ziemlichen Schrank. Auch weist das Fädlein der Vorderläufe auf beiden Seiten wie ein Uhrzeiger etwas nach außen. Knieend blicke ich zu Jörg auf: „Das ist kein Junger mehr!“ Der Freund nickt. Die Fährte verlässt den Steig und führt in die Senke hinunter, während wir weiter dem im Kiefernholz markierten Weg folgen.
Durch einige Randfichten schimmert durch das Geäst weiter unten eine offene Kanzel herauf. Der Pirschweg zweigt ab, und vorsichtig nähern wir uns der Halboffenen, klettern nach oben und richten uns so lautlos wie möglich ein. Sanft wiegt sich vor uns das Schilf, irgendwo dazwischen das Wasser. Gegenüber eine Wiese, die auf breiter Front von ansteigendem Kiefernwald begrenzt wird. Entlang der Parade der roten Stämme gleitet ein mächtiger Seeadler. Als er aufbaumt, haben ihn bald die Kolkraben entdeckt, um ärgerlich zu schimpfen. Gelassen nimmt er das Gekreisch der Wotansvögel hin. In den Erlen schräg vor uns auf vielleicht 100 m melden einige Amseln. Mit den Gläsern tasten wir uns durch die Schilfhalme und die Lücken mooriger, saurer Wiesenstücke und Erlenbüsche. Jazek stößt mich von der Seite an: „Da, ein Hirsch.“ Kaum, dass ich das Semmelrot seiner Decke herausgefiltert habe, hat sich der Pole schon erhoben und drängt, ihn anzupirschen. Viel hab ich von ihm nicht gesehen, zumal der rote Schatten fast 300 m entfernt war. Aber der Jagdführer weiß, von wo aus er möglicherweise gut anzusprechen wäre.
Autor: Heiko Hornung