16.09.2023
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Pommern

Septemberweben

Wenn die Getreideernte eingefahren ist und die Nächte kühl werden, dann entsteht eine Spannung, die etwas Großes, einen Höhepunkt ankündigt – die Hirschbrunft. Heiko Hornung erlebte den Zauber zwischen Feistzeit und dem Beginn der heiligen Tage.

Septemberweben

Bild: Klaus-Herbert Schröter

Wenn die Beeren der Eberesche hinterm Haus korallenrot in der Sonne leuchten, am Morgen der Nebel in den Senken steht und die alten Weiber ihre im Tau glänzenden, seidenen Gespinste in die Disteln weben, dann wird der Geist unruhig. Dann gehen die Gedanken in die Berge und in die tiefen Wälder des Ostens. Dann sehe ich in heimeligen Ecken dort den Hirsch verschlagen. Sehne mich in die Stille der Eichen- und Kieferndome. Sehe mich Schritt für Schritt auf den sandigen Pirschweg setzen und in das Dunkel hineinhören und hineinfühlen, bis das der erste Ruf des Hirsches den Körper mit Gänsehaut überzieht. Verlangen kann schmerzhaft sein.

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Altweiber-Sommer: Im Morgentau und Sonnenlicht werden die vielen Spinnennetze sichtbar. (Bild: Heiko Hornung)

Als ich vorsichtig die Autotüre hinter mir schließe und der schwere kiefernharzige Spätsommerduft mir in die Nase steigt, beginnt nicht nur die Pirsch. Es beginnt jedes Mal von Neuem der Traum eines Buben, der mit jeder Buchzeile Cramer-Klett, Perfall, Löns und all den anderen in seiner Phantasie folgte, nur dass die Bilder jetzt direkt in ihn fließen. Nicht als gelesen Geträumtes, sondern als selbst Erlebtes. Zum 2. Mal bin ich nach 12 Jahren wieder in Trzebielino. Diesem immer noch wildreichen, knapp 20 000 ha großen Forstamt in Pommern. Dem Ort, in dem der alte Bismarck die Liebe seines Lebens fand (s. WuH 2/2011) und ich in den Mooren und auf den großen Waldwiesen Bilder sah, die einem Jäger für immer bleiben.

Noch sind die heiligen Tage nicht angebrochen. Tagsüber ist es heiß, und die Nächte sind frisch. Das Blau des Himmels strahlt schon klarer. Die Stare und die Turteltauben sammeln sich. Kraniche rufen und piepen in großen Keilformationen Richtung Süden. Mit dem rauen Ruf der Kolkraben sind sie die Musikanten im Orchestergraben, die sich auf die große Symphonie vorbereiten, die dramatisch in den nächsten Tagen erklingen wird.

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Auf den dunstigen Wiesen des Forstamtes Trzebielino sammelt sich abends das Kahlwild. (Bild: Heiko Hornung)

Noch sind die Helden der Oper nicht auf der Bühne. Versonnen dösen sie in den Einständen. Erst wenn das Licht schwindet, erscheinen ihre schwarzen Schatten auf den dunstigen Wiesen. Umkreisen flehmend die Schar der Weiber. Prüfen, wie groß die Bereitschaft der Tiere zum Duett ist, das ihren ganzen Auftritt verlangt. Wie Scherenschnitte gleiten sie durch den vom letzten Licht leuchtenden Nebel, wie durch unsichtbare Schnüre in einem Meer aus Weiß hin- und hergezogen. Nur gelegentlich legt der Hirsch das Haupt ins Genick und lässt sehnsuchtsvolles Knören vernehmen. Mehr eine Stimmprobe als volle Intonation. Es sind die mittelalten Tenöre. Die wahren Stars, die alten Bässe, kennen ihre Zeit. Wenn die Oper beginnt und die Overtüre vorbei ist, stehen sie plötzlich stimmgewaltig auf der Bühne.

Mich begleiten Jagdführer Jazek und mein Freund Jörg, der mir vor einer guten Dekade das Tor zu diesem Revier öffnete. Jazek, der gewiefte Förster, der immer noch den Schalk in seinen Augen hat, ist grau geworden. Der Leibesumfang ist nach einer Dekade auch nicht mehr der selbe. Aber sein Instinkt und sein Näschen sind eher noch schärfer geworden. Wir wollen ins sogenannte Saugatter schleichen. Seinen Namen hat diese Abteilung tatsächlich von einem einst fast 400 ha großen Gatter, in dem Schwarzwild gehortet wurde. Das ist schon lange Vergangenheit. Einen Zaun gibt es nicht mehr. Aber eine Senke, inmitten von 1 000 ha trockenem Kiefernwald, durch den sich ein klares Bächlein schlängelt, das links und rechts von Schilf, Wiesen und kleinen Erlengruppen gesäumt wird. Das Wasser und die frische Äsung, aber v. a. die Abgeschiedenheit und Ruhe machen das „Saugatter“ zu einem idealen Feisthirscheinstand. Selbst bei bestem Licht bummeln hier die Hirsche im Schilf, äsen, schöpfen, ruhen, grad so wie in einer gemütlichen Stube. Um die Senke herum haben die Förster einen Pirschweg wie einen Ring gelegt, von dem aus sich in rechtwinkligen Abzweigen gedeckt stehende Hochsitze, Aussichtspunkte oder Schirme erreichen lassen. Einer solchen, günstig im Wind stehenden Kanzel streben wir zu. Oben im trockenen Kiefernwald wechselten bereits einige Stücke Kahlwild. Er wird also Zeit.

Vorsichtig setzen wir auf dem sauber gefegten Steig Fuß um Fuß fort. Eine Fährte im Sand, ziemlich frisch, lässt uns anhalten. Es ist die eines Hirsches. Schön rund lässt sich fast die Hand hineinlegen. Die Spitzen der Schalen sind stumpf und fast etwas eingebogen. Der Fährtenverlauf auf dem Pirschweg zeigt einen ziemlichen Schrank. Auch weist das Fädlein der Vorderläufe auf beiden Seiten wie ein Uhrzeiger etwas nach außen. Knieend blicke ich zu Jörg auf: „Das ist kein Junger mehr!“ Der Freund nickt. Die Fährte verlässt den Steig und führt in die Senke hinunter, während wir weiter dem im Kiefernholz markierten Weg folgen.

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Die Schalen eines älteren Hirsches sind deutlich rund, die Schalenspitzen stumpf und leicht eingebogen. (Bild: Heiko Hornung)

Durch einige Randfichten schimmert durch das Geäst weiter unten eine offene Kanzel herauf. Der Pirschweg zweigt ab, und vorsichtig nähern wir uns der Halboffenen, klettern nach oben und richten uns so lautlos wie möglich ein. Sanft wiegt sich vor uns das Schilf, irgendwo dazwischen das Wasser. Gegenüber eine Wiese, die auf breiter Front von ansteigendem Kiefernwald begrenzt wird. Entlang der Parade der roten Stämme gleitet ein mächtiger Seeadler. Als er aufbaumt, haben ihn bald die Kolkraben entdeckt, um ärgerlich zu schimpfen. Gelassen nimmt er das Gekreisch der Wotans­vögel hin. In den Erlen schräg vor uns auf vielleicht 100 m melden einige Amseln. Mit den Gläsern tasten wir uns durch die Schilfhalme und die Lücken mooriger, saurer Wiesenstücke und Erlenbüsche. Jazek stößt mich von der Seite an: „Da, ein Hirsch.“ Kaum, dass ich das Semmelrot seiner Decke herausgefiltert habe, hat sich der Pole schon erhoben und drängt, ihn anzupirschen. Viel hab ich von ihm nicht gesehen, zumal der rote Schatten fast 300 m entfernt war. Aber der Jagdführer weiß, von wo aus er möglicherweise gut anzusprechen wäre.
 
Schnell haben wir abgebaumt, erklimmen den Senkenrand und schleichen den Weg zurück, den wir gekommen sind. Flotten Schrittes legen wir 200 m zurück, um wieder senkrecht nach unten einzubiegen. Das Tempo verlangsamt sich zum Katzengang. Da steht ja die Fährte von vorhin wieder im Sand und führt fadengrad ins Offene. Hinter dem quer liegenden mächtigen Stamm einer vor Jahrzehnten umgefallenen alten Eiche geht Jazek in die Knie, nimmt das Glas vor Augen. Jörg und ich schieben uns hinter ihn. Auf vielleicht 160 m äst der Hirsch, der vermutlich seine Trittsiegel in den Steig gedrückt hat. Er hat noch die typische Figur in der Feiste. Der Brunftkragen braucht noch etwas, der Bauch hängt in einem tiefen Bogen durch. Alles an ihm ist Masse. Unter dem knochigen Haupt eine leichte Wamme. Auf dem Haupt trägt er links eine kleine Krone und abwärts 3 Enden, rechts nur eine Gabel, Mittel- und Augsprosse. Ein älterer Abschusshirsch wie aus dem Bilderbuch. Diese Erkenntnis peitscht ins Blut. Das Nicken des Jagdförsters spannt die Nerven zusätzlich. Vorsichtig richte ich den Pirschstock und streiche an. Als sich der Geweihte äsend wendet und das Blatt zeigt, giftet die 7 x 64 hinaus. Er zeichnet deutlich, rauscht in das Schilf hinein, kurz wird er sichtbar, noch ein Platschen im Wasser, dann Stille.
 
Ich blicke mit offenem Mund zu den Begleitern. „Schuss gut“, sagt Jazek. Jörg meint, Kugelschlag gehört zu haben. Nach einer angemessenen Wartezeit stapfen wir mit angespannter Vorfreude durch den feuchten Grund und das hohe Gras Richtung Anschuss. Als die Sicht auf einige Meter Bach frei wird, der still vor uns wegfließt, dreht sich Jazek lächelnd zu mir um. „Hirsch liegt“, grinst er. Im Bach ist er verendet. Das Bergen aus dem Wasser, das Lachen der Freunde, die Scherze über den Verlauf, das Heimkommen in die Jagdunterkunft – immer noch ist es ein Traum.

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Ein braver Abschusshirsch vom 9. Kopf ist vor dem Jagdhaus Dolno zur Streckegelegt. (Bild: Heiko Hornung)
 
Als ich im Dunkeln vor das Jagdhaus trete, leuchten die Sterne besonders intensiv. In der Ferne meldet ein Hirsch. Ja, jetzt beginnt sie, die Brunft, dieser dramatische Höhepunkt des Jahres. Und morgen werden wir wieder zusammen schleichen in den stillen Gründen und in den Mooren. Diesmal soll Jörg jagen. Die Freude da­rüber, dass ich noch nicht erwachen muss, erzeugt wieder diesen wohligen Schauer, den nur der Jäger kennt.

Autor: Heiko Hornung