Blattjagd in Frankreich
Melodien für Bourbonen
Es gibt Orte, an denen scheinen die Uhren langsamer zu gehen. „Petit Trevesse“ ist solch ein Ort in der Auvergne. Wer hier jagen darf, kann seine Zeitmesser getrost daheim lassen, denn die Wälder und Felder rund um das Château entschleunigen.Falk Kern
Bild: Falk Kern
„Bitte sag hier niemandem, wir seien in der Auvergne“, sagt Rolf Koerfer durch eine Wolke von Zigarrenrauch. „Für die Menschen vor Ort ist und bleibt es das Bourbonnais“, fügt er lächelnd hinzu. Der Mittsechziger mit den wachen, stahlblauen Augen hat hier, nahe dem Städtchen Moulins, gemeinsam mit seiner Frau Marion sein Paradies gefunden, restauriert und erweitert. „Vor 20 Jahren nahm unser Schicksal eine interessante Wendung“, berichtet er. „In der WILD UND HUND stand ein Château mit Eigenjagd zum Verkauf. Kurzerhand bin ich mit meiner Frau hingefahren. Wir waren sofort verzaubert von Petit Trevesse und bekundeten unser Kaufinteresse. Leider interessierte sich schon eine Künstlerkolonie für das Anwesen. Zu unserem Glück kam der Kauf aber nicht zustande. Da mussten wir zuschlagen“, erzählt er. Ein echter Kraftakt folgte. Denn Koerfer kam nicht etwa hauptberuflich aus der Land- oder Forstwirtschaft. Er ist Rechtsanwalt. Sein Spezialgebiet sind Unternehmenskäufe und Firmenfusionen. Und entsprechend war seine Lebensführung konträr zu der auf einem französischen Landgut. Aber wo die Liebe hinfällt, haben Vernunft und Zweifel Schweigepflicht. Die Sonne brennt auf die trockenen Böden der Auvergne, Verzeihung – des Bourbonnais. Bei der morgendlichen Anfahrt zuckten noch Blitze durch den Himmel über dem herrlichen französischen Landidyll. Nun ist es Mittag, und ich will mit Hanno, dem Sohn des Schlossherren, ein paar erste Blattversuche im knapp 150 ha großen Revier rund um das Schloss wagen. Mit Pirschstock, Büchse und Blatter verlassen wir die wundervoll angelegte Parkanlage, die mit großer Liebe und immensem Know-how von der Hausherrin angelegt wurde. Wir schlendern entlang eines der großzügigen Teiche. 5 Stück gibt es auf dem Gelände von „Petit Trevesse“. Scharen von Enten fühlen sich hier sichtlich wohl. Aber auch Nutrias rinnen in großer Zahl durch die Gewässer. „Die sind eine echte Plage, wir haben an manchen Abenden schon bis zu 10 erlegt“, erklärt Hanno. Hinter dem Teich tauchen wir in dichte Eichenwälder ein. Der Plan: Einer blattet, der andere schießt, wenn es passt.
Der 1. Versuch erfolgt von einem halbhohen, gut gedeckten Drückjagdbock. Die ersten 5 Fieptöne sind kaum verklungen, da donnert aus unserem Rücken ein liebeshungriger Bock an. Das Gehörn ist sehr stark, der Cervide aber noch äußerst jung. Gleich einem Lippizaner in der Hofreitschule stolziert er um den Sitz. Dicke Stangen, deutlich über lauscherhoch. Und wir sind gerade erst 20 min unterwegs. Was für ein vielversprechender Start. Der Wind setzt dem Treiben des ca. 3-jährigen ein jähes Ende. In weniger eleganten Sprüngen sucht er sein Heil in der Flucht. Hinter uns quiekt es. „Sauen“, zischt der Sohn des Hauses. Der Sache wollen wir auf den Grund gehen. So leise es der trockene Boden erlaubt, umschlagen wir eine kleine Dickung, hinter der wir die Schwarzkittel vermuten. Als die Sicht frei ist, sehen wir noch die Pürzel von 3 Überläufern. In leichtem Troll suchen sie das Weite. Wir kehren zu unserem ursprünglichen Plan zurück und steuern den nächsten Stand an.
Bei einem kleinen Snack planen wir das weitere Vorgehen. Wir sitzen vor dem Poolhaus, in dem wir auch nächtigen. „Das kleine Haus hat eine bewegte Historie“, berichtet der Schlossherr. „François Mitterrand nutzte es regelmäßig für Treffen mit seiner Geliebten Anne Pingeot“, fügt er hinzu. Das Anwesen gehörte François de Grossouvre, dem damaligen Präsidenten der französischen Staatsjagd. Der Spross eines alten Adelsgeschlechts war einer der engsten Berater Mitterrands, den er auf einer gemeinsamen Chinareise 1959 kennenlernte. Er erwarb „Petit Trevesse“, das ihm ideale Bedingungen für seine Passionen bot – die Jagd und die Reiterei. Noch heute sieht man die Spuren der Jagdleidenschaft. So sind zwischen den Eichen Trassen angelegt, die sich ideal auf Drückjagden bejagen lassen. Der Adlige war bis 1967 Frankreichs Außenhandelsberater und war auch später der Mann für den nahen Osten und die ehemaligen französischen Herrschaftsgebiete in Afrika. Er blieb ein enger Berater und Vertrauter Mitterrands. Bis zu seinem Tod, einem recht fragwürdigen Selbstmord 1994 im Élysée-Palast in Paris, der die Grande Nation erschütterte, hütete er die Geheimnisse des Präsidenten. Nämlich seine Liebschaft und die daraus hervorgegangene uneheliche Tochter. Seine letzte Ruhe fand er im nur wenige Minuten entfernt gelegenen Lusigny. „Petit Trevesse“, das ob seiner Vergangenheit vieles von Demokraten bis Despoten gesehen hat, atmet also an jeder Stelle französische Geschichte.
„Le Breuil“ ist ein nahe gelegenes Château, das aus
dem Anfang des 19. Jahrhunderts stammt. Zu dem Herrenhaus gehört ein ca. 800 ha großes Jagdrevier. Neben einem großen Forstbereich mit alten Eichenbeständen, werden dort auf 300 ha Wintergetreide, Raps, Sonnenblumen, Mais, Soja sowie Miscanthus angebaut. Ob schlechten Wetters entfällt der Morgenansitz. Es bleibt daher mehr Zeit, sich die Immobilie und ihre Umgebung genauer anzusehen. Vor einem kleinen Turm neben dem alten Pförtnerhaus verlangsamt Rolf Koerfer den Wagen. „Um diesen Turm war seinerzeit eine Mauer gebaut. Vom Dachplateau aus wurden die Meutehunde gefüttert“, erklärt er. Wir drehen eine Runde über das Anwesen, durch das Schloss und schließlich ins Revier. Es klart auf. Nach einem kurzen Kennenlernen und einer schnellen Einweisung durch den Jagdaufseher Yvon zieht es Hanno und mich in den Forst. Auf unsere Liebesmelodien zeigt sich jedoch kein Stück. Nur ein gelangweiltes Schmalreh äugt die so inständig blattenden Deutschen verständnislos an. Der Abendansitz bleibt stark vom Anblick, allein etwas Jagdbares zeigt sich nicht. Hanno hat seine Zieloptik angeschlagen. Vor einem Probeschuss will er daher die Waffe nicht einsetzen. Deshalb sind wir am nächsten Morgen wieder gemeinsam unterwegs. Noch in tiefer Dunkelheit beziehen wir einen Sitz an einer großen Eiche. Vor uns liegen links ein Miscanthus-, mittig ein Soja- und rechts ein Maisfeld. Mit der Wärmebildkamera leuchten wir die Flächen ab. Der Sojaschlag scheint der Anziehungspunkt fürs Rehwild zu sein. 5 Wärmebildsignaturen sind zu sehen. Dann siegt langsam der Tag über die nächtliche Schwärze. Die Sonne erobert den Himmel, und bald werden auch durch das Fernglas die amorphen Gebilde zu Rehen. Rechts steht ein schwacher Jährlingsspießer, der zügig von einem mittelalten Bock auf die Läufe gebracht wird und sein Heil im Miscanthus sucht. Auf der linken Seite steht eine Ricke mit ihren 2 Kitzen, bei ihr steht ein Bock, der zwar mit dem Gehörn prahlt, aber noch nicht das Erntealter hat. Die Augen finden keine Ruhe. Neben der Miscanthusfläche tritt ein Keilerchen aus. Der Wind küselt in seine Richtung und schnell ist er fort. Weit oben am Horizont treibt ein Bock seine Auserwählte. Auf einmal ist ein neuer Spieler im Soja. 420 m sagt der Entfernungsmesser. Trotzdem zeigt der Bock ein starkes Gehörn. Gebäude, Verhalten – alles deutet auf einen reifen Bock hin. Hanno versucht, ihn mit dem Blatter zu bezirzen. Der wirft einmal gelangweilt auf und äst dann seelenruhig weiter. So wird das nichts. Die restliche Bühne hat sich geleert. Wir sehen unsere Chance in einer Pirsch am Rand des Miscanthusfeldes. Hier haben wir die Sonne im Rücken und den Wind im Gesicht. Vielleicht ist das Glück auf unserer Seite. In geduckter Gangart ziehen wir schnellen Schrittes am Feld entlang. Plötzlich rauscht das ganze Halmenmeer neben uns. Eine Rotte fühlt sich gestört und dampft ab. Einige Gänge weiter will Hanno schauen, ob der Bock noch überriegelt ist. Kaum hat er seinen Kopf über die Halme des Miscanthus gereckt, kniet er auch schon wieder. In Zeichensprache zeigt er an, dass der Alte auf uns zugezogen ist und, dass es jetzt schnell gehen muss. Langsam richte ich mich auf. Der Bock ist nur 40 m vor uns. Als er kurz sein Haupt ins Sojafeld senkt, ist die Waffe auf dem Zielstock. Langsam zieht er weiter. Der Punkt ist auf dem Blatt, und mit einem lauten Knall reißt es den Starken von den Läufen. Der Schuss ist noch nicht verhallt, da peitscht ein 2. durch den Morgen. Die Sauen haben den Lärm nicht ausgehalten und sind Jagdhüter Yvon vor die Büchse gelaufen.
Am Stück angekommen, schneide ich mit zittrigen Fingern Monat und Datum aus dem Bracelet. In Frankreich darf die Beute weder bewegt noch versorgt werden ohne dieses Kennzeichnungsband. Wir fallen uns in die Arme und bewundern den Bock, dem aus der linken Rose eine Vereckung wie ein kleiner Augspross wächst.
Yvon stößt zu uns. Lachend bedankt er sich für den Frischling, den wir ihm zugetrieben haben. Er schaut auf den Bock und sagt anerkennend: „Ist ein guter Bock! Nicht der sehr gute der hier geht, aber ein guter Bock, Waidmannsheil!“ Wir sind platt. Denn für unsere Verhältnisse ist der Erbeutete schon ein sehr guter Bock. Nachdem wir die Rote Arbeit verichtet haben, geht es zurück nach „ Petit Trevesse“. Der Jagdherr ist zufrieden. Über die Reaktion von Yvon schmunzelt er. Er geht in seine Bibliothek und kommt mit einer Abwurfstange und einem Gehörn zurück. „Das meinte der gute Yvon mit starkem Bock“, sagt er lächelnd. Die einzelne Stange gleicht einer Miniatur-Damwildschaufel, und das Gehörn prahlt mit einem Gewicht von ca. 560 g. Trotz der Bewunderung für diese kapitale Trophäe hätte aber unser Erlebnis nicht großartiger sein können.
Nach einem feinen Frühstück erkunden wir die Umgebung ein wenig mit dem Auto. An jeder Stelle wird deutlich, dass die Gegend die Wiege der Bourbonen war. Denn die Dichte an Schlössern ist immens. Es scheint, als hätte jede französische Adelsfamilie sich dort einen Sitz errichtet, wo das Haus seinen Ursprung hat, das über Jahrhunderte über die Franzosen geherrscht hat. Ein unglaublich schöner Landstrich voller Geschichte und Geschichten. Das neuerworbene Anwesen möchte Familie Koerfer zukünftig auch für interessierte Jäger öffnen. „Ich bin zwar kein Jagdreiseanbieter, kann mir aber gut vorstellen, Jägern, die die Schönheit der Region und des Waidwerks vor Ort zu schätzen wissen, individuelle Arrangements für beide Anwesen anzubieten“, erklärt der Grundherr. Beim Erkunden dessen, was bereits in kurzer Zeit in dem neuerworbenen Château geschaffen wurde, erklärt sich, was er meint. 7 individuelle Doppelzimmer sowie ein jagdlicher Festsaal sollen geöffnet werden für Menschen mit einem Faible für außergewöhnliche Orte und solche, die einmal in Frankreich jagen möchten.
Auf unseren folgenden Pirschen erbeutet Hanno noch einen Abschussbock, und mir wird ein reifer Abnormer zuteil. An diesem herrlichen Ort ist es nicht die Masse, die die Jagd ausmacht, sondern die Klasse. Und durch sie hinterlässt das Bourbonnais tiefe Spuren im Jägerherzen.
Autor: Falk Kern