Grün wohin das Auge reicht. Lediglich die weiße Rinde der armstarken Birken, die hier zu Tausenden wachsen, fallen aus dem Rahmen. Seggen und andere Gräser, die in Bülten wuchernd aus moorig-braunem Wasser ragen, wechseln sich mit Brombeeren, Erlenanflug, einzelnen Stechpalmen und verschiedenen Farnen ab. Waldreben versuchen, sich aus dem Modrig-Dunkeln empor zum Licht zu hangeln. Es tropft unablässig. In den Regenpausen werden Myriaden Mücken munter, während kleine, 8-beinige, schwarze Punkte blutdürstig auf vorbeiziehende Opfer warten. In unmerklich höher liegenden Bereichen, dort, wo das Wasser etwas weniger Macht über die Fauna hat, überziehen Heidelbeeren den kargen Boden. Sie hängen voll mit tiefblauen Früchten, die bei der geringsten Berührung die Haut auf Tage lila färben. Wer die Augen schließt, sie wieder öffnet und kurz innehält, der wähnt sich in den wilden Weiten Skandinaviens. Das Wetter indes zeichnet ein anderes Bild. Es ist aufgrund des Dauerregens und der hohen Luftfeuchtigkeit unerträglich drückend. Die teils sintflutartigen Regenfälle werden nur ab und an von sehr kurzen, aber intensiven Sonnenmomenten unterbrochen. Wäre es keine Momentaufnahme, man fühlte sich an den Äquator versetzt. Das Wilde Moor liegt jedoch im äußersten Norden Niedersachsens, irgendwo zwischen den Mündungen von Weser und Elbe in der westlichen Peripherie der Gemarkung Stinstedts. Dieses Örtchen wurde einst auf einem von Marschland umringten Geesthügel erbaut. Anders als in anderen Breiten der Republik bezeichnet das Wort Hügel im Landkreis Cuxhaven eine kaum wahrnehmbare Erhebung von wenigen Metern. Die machen aber einen bedeutenden Unterschied. Der Großteil der Gegend ringsherum liegt auf oder gar unter Meeresspiegelhöhe und wäre eigentlich eine komplette Moorlandschaft – hätte der Mensch das Wasser nicht über die Jahrhunderte abgeleitet, gestaut oder auf andere Weise bezwungen und so die Landschaft urbar gemacht. Aber trotzdem gibt es um das 550-Einwohner-Dörfchen noch einige dieser unwirtlichen Flecken, in die nur selten ein Mensch ohne guten Grund vordringt – so wie das Wilde Moor.
Der dichte Bewuchs aus vor allem Birken und Erlen macht weite Schüsse unmöglich. Deshalb soll der Blatter das Wild direkt vor die Büchse locken. (Bild: Peter Schmitt)
Harald Müller stochert mit seinem Schießstock vor sich über den Grund. Welche Bülte hält dem Körpergewicht voraussichtlich stand? Ein falscher Tritt, und auch die Gummistiefel sind hier nutzlos. Schritt für Schritt tasten wir uns an eine Stelle mit festerem Boden heran, an der wir zwischen den Birken wenigstens einige Meter freies Schussfeld haben. Der Norddeutsche bringt sich einigermaßen in Position, ich suche mir dahinter leidliche Deckung. Doch noch vor den ersten Locklauten öffnet der Himmel seine Schleusen – abermals. Es bricht dermaßen über uns herein, dass wir uns und die Fototechnik unter einem vom Einheimischen in weiser Voraussicht mitgeschleppten Angelschirm in Sicherheit bringen. Seit Wochen regnet es hier im hohen Norden nun schon. Und auch zur Blattzeit hat Petrus offensichtlich keine große Ausnahme eingeplant. Doch irgendwann ebbt das Rauschen ab, wird der Platzregen zu Bindfäden, Bindfäden werden zu Nieselregen. Aber wie an den 2 Stellen zuvor tut sich rein gar nichts – bis zum laut vorgetragenen, dauerhaften Sprengfiep mit eingestreutem Kitz-Angstgeschrei. Wie von der Tarantel gestochen springt ein Bock in hohen Fluchten auf uns zu, um nur wenige Meter vor dem Schützen abrupt in die Eisen zu steigen. Doch Harald macht keinerlei Anstalten, in den Anschlag zu gehen. Der Sechser beginnt, uns im Stechschritt zu umrunden. Als er keine 5 m neben uns durch einen Erlenanflug zieht, öffnet der Himmel erneut seine Schleusen. Wir lassen Bock Bock sein und rotten uns erneut unter dem Schirm zusammen. „Frankfurter Sechser in der Blüte seines Lebens“, kommentiert Harald den Anblick. „Den muss man nicht schießen. Ziel ist und bleibt der alte Moorbock“, schwört uns der Blondschopf ein.
Ein Bock steht zu. Doch Harald möchte nicht irgendein Reh erlegen. Er hat es auf einen alten Moorbock abgesehen und lässt den Halbstarken ziehen. (Bild: Peter Schmitt)
„Ich kann mich nicht entsinnen, dass da drin auch nur einer einmal ein Reh geschossen hat. Also mindestens die letzten 20 Jahre nicht“, hatte sich Klaus, Haralds Bruder, am Morgen erinnert. Auch er ist einer von knapp 30 Jägern des Ortes. „Da drin auf Rehe zu jagen, macht für viele einfach keinen Sinn. Du siehst nichts, kommst kaum voran, das Wild bekommt dich mit, bevor du es überhaupt bemerkst, und wenn du was schießt, fängt der Spaß erst an. Mal eben ins Auto laden ist im Wilden Moor nicht. Wir haben genügend Rehwild, und den Abschuss bekommen wir ohne solche Strapazen locker erfüllt“, fasste der passionierte Jäger zusammen. „Gejagt wird im Wilden Moor einmal im Jahr bei unserer Treibjagd. Dort müssen Rehe leben, die haben selten einen Menschen gesehen“, ergänzte Harald. „Tatsächlich finden wir dann auch offensichtlich an Altersschwäche eingegangene Stücke.“ Also muss es in diesem Moor richtig betagte Rehe, und somit auch Böcke, geben. Ein lohnendes Ziel für jeden Waidmann. Doch wie dran kommen? Bald war die Idee gefasst, es mit der Blattjagd zu versuchen nach dem Motto: Wenn der Prophet nicht zum Berg kommt, muss der Berg eben zum Prophet.
Das Ufer des Kanals im Randbereich des Moors bietet eine der wenigen Möglichkeiten für Harald, einigermaßen hindernisfrei voranzukommen. (Bild: Peter Schmitt)
Wir ziehen weiter. Das für August untypische Wetter scheint den Rehen die Hochzeitslaune verhagelt zu haben. Die meisten unserer Töne verhallen unbeachtet. Zudem gestaltet es sich äußerst schwierig, im dichten Busch unbemerkt an Stellen mit einigermaßen ausreichendem Schussfeld zu gelangen, ohne das Wild zu vertreten. Wir beschließen, es für heute gut sein zu lassen und nähern uns dem Randkanal. Das 7 bis 8 m breite, tiefbraune Gewässer bildet die Grenze vom Moor zu den benachbarten Weiden, deren Entwässerungsgräben in eben diesen Kanal münden. An dieser Stelle führt eine Jägerbrücke hinüber. Auch unter den Einheimischen kennen oft nur noch die alten Hasen oder besonders Ortskundige diese abenteuerlichen Stege. Plötzlich stoppt Harald und sinkt auf die Knie. Etwa 80 Schritt entfernt äst ein Bock größtenteils von der Vegetation verdeckt am Ufer des Kanals. Schnell ist der Schießstock aufgestellt, das Gewehr gebettet und der Locker an den Lippen. Auf die ersten Töne wirft der Bock auf. Es bedarf aber einiger Überredung, bis er sich dazu entschließt, den Lauten auf den Grund zu gehen. Langsam zieht er parallel zum Ufer auf uns zu. Der Sicherungsschieber klickt unmerklich. Da erscheint der Bock keine 30 m vor uns zwischen 2 verbuschten Erlen und stellt sich breit. Ein erneutes Klicken. Die Sicherung ist zurück in ihrer Ausgangsstellung. Spannung entweicht. „Zu jung. Solche Böcke könnten wir draußen im Feld zu Dutzenden schießen“, erklärt Harald. Mit dem nächsten unwetterartigen Schauer entschwindet der Moorgeist in der grünen Hölle, und auch wir suchen das Weite – im wahrsten Sinne des Wortes. Denn wir müssen das Moor noch einmal umschlagen, um wieder an unseren Ausgangspunkt zu gelangen. Klitschnass sind wir über eine Stunde später am Auto.
Nur wenige Wege gibt es im Wilde Moor. Wo Licht den Boden berührt, entsteht in kürzester Zeit eine grüne Hölle. Die Ansitzjagd ist hier nahezu unmöglich. (Bild: Peter Schmitt)
Irgendwie hatten wir uns das anders vorgestellt. Natürlich hat das Sommerwetter seinen Namen nicht verdient und beeinflusst die Blattzeit. Aber deswegen fällt die Brunft ja nicht aus. Bei einem abendlichen Reviergang finden wir einen möglichen Grund für das zurückhaltende Verhalten des Wildes. Auf einem Sandweg steht die frische Spur eines Wolfes. Und dessen Absichten ähnelten offenbar den unseren. Die Tritte im Untergrund zeichnen ein klares Bild: Seine Siegel kreuzen die eines Rehs. Der Grauhund änderte abrupt die Richtung. Seine Tritte stehen nun zwischen denen des Rehs. Nach einigen Metern zeigen dessen Eingriffe, dass es zur Flucht übergegangen war. Der Wolf musste die Verfolgung aufgenommen haben. Plötzlich schlug das Reh einen Haken und nahm die Deckung eines Maisschlages an. Doch Isegrim ließ sich zumindest mit dieser Finte nicht abschütteln. Ob er erfolgreich war, können wir letztendlich nicht klären, Spur oder Fährte sind für uns im Mais nicht zu halten.
Auf der Fluchtfährte eines Rehs (oberer Bildrand) steht die Spur eines Wolfes. Dort, wo Isegrim jagt, wird Rehwild vorübergehend unsichtbar. (Bild: Peter Schmitt)
Trotzdem versuchen wir es am kommenden Tag ein 2. Mal. Heute will Klaus sein Glück auf einen alten Moorgeist versuchen. Der über Nacht gedrehte Wind erschwert unsere Unternehmung zusätzlich. Wir müssen das Wilde Moor von der Kanalseite her angehen. Noch bevor die eigentliche Jagd beginnt, sind wir von oben und unten durchnässt. Während bei der Fahrt im Offenland zumindest einige liebestolle Rehe zu sehen waren, wirkt das Moor wie ausgestorben. Der Blatter scheint völlig wirkungslos geworden zu sein. „Wir haben noch einen Versuch“, leitet Klaus ein. „Wir umschlagen jetzt das Ganze, queren den Kanal an der 2. Jägerbrücke und gehen stumpf mittenrein. Zu verlieren haben wir ja nichts. Ich hab da eine Stelle vor Augen. Wenn da nichts geht, dann weiß ich auch nicht“, umreißt er seinen Plan. Wir queren den Randkanal an anderer Stelle und pirschen bzw. waten Hunderte Meter tief bis in das Herz des Moores. Irgendwann stoßen wir auf eine Art von unzähligen Blaubeeren und Erlen umrahmte Lichtung. Wir finden nur spärliche Deckung auf einer leichten Erhöhung, die uns etwas Übersicht bietet. Es tropft überall. Deshalb entschließen wir uns, direkt mit dem laut vorgetragenen Sprengfiep zu beginnen.
Klaus Müller an seinem reifen Moorbock mit leichtem Korkenzieher- gehörn und imposanten Dachrosen. (Bild: Peter Schmitt)
Nach wenigen Tönen nehme ich eine dumpfe Geräuschabfolge wahr, die ich nicht zuordnen kann. Klaus weiß es besser zu deuten und wirft sich geistesgegenwärtig herum. Da ist der fahlgelbe Bock nur noch wenige Meter entfernt. In voller Fahrt hält er auf uns zu, um den Jäger auf max. 5 m zu eräugen. Mit einem halben Seitwärtssalto reißt er sich herum, um übergangslos die Flucht anzutreten. Doch das Fiepen aus dem Blatter lässt ihn noch einmal auf 25 Schritt mit bebenden Flanken hinter einem Erlenzwiesel verhoffen. Klaus nimmt angestrichen Maß und zirkelt die .223 Remington zwischen den Stämmen hindurch. 30 m tiefe Flucht,und der Moorgeist fällt ins nasse Gras. Wenig später stehen wir an einem wahrlich reifen Bock mit tiefen sitzenden Dachrosen und einem angedeuteten Korkenziehergehörn. „Der alte Fuchs hat sich von uns überlaufen lassen“, resümiert der erfolgreiche Schütze. „Und ob du es glaubst oder nicht, als er gesprungen ist, hat man das nicht nur gehört, ich habe über den Moorboden sogar die Erschütterungen gemerkt.“ Klaus deutet durch eine Lücke im Kronendach auf die winzigen Spitzen der Rotoren einer weit entfernten Windkraftanlage. „Da steht unser Auto“, sagt er mit einem Grinsen. Aber der kilometerlange Rückweg, die Mücken und Zecken sowie der wieder einsetzende Regen sind uns nun völlig gleich. Ein letztes Mal queren wir den Randkanal über das nicht besonders Vertrauen erweckende Brückchen – diesmal aber mit geschulterter Beute.
Auf der Westseite führen nur vereinzelte Behelfsbrücken aus dem Moor. Die Beute muss über Kilometer bis zum Auto getragen werden. (Bild: Thomas Schwenen)