Rothirschjagd
Das Nachtgespenst
So imposant, wie sich die Geweihten in der Brunft gebärden, so heimlich sind sie in der Feistzeit. Sie werden zu Phantomen. Gert G. v. Harling
Bild: : Karl-Heinz Volkmar
Jagen auf den Feisthirsch im hochsommerlichen „Erntemond“ ist für mich ebenso spannend wie auf den Brunfthirsch im „Herbstmond“. Dabei war mein erster Feisthirsch, den ich in zartem Konfirmandenalter erlegte, der Fall ist ein halbes Jahrhundert her und längst verjährt, kein wirklicher Feisthirsch, sondern ein ungerader Eissprossenzehner mit brandigen Enden. Kaum ein Gramm Fett hatte er angesetzt, alle Energie in sein jugendliches Wachstum investiert. Ich hatte damals, Anfang August, beim Abfährten ein Rudel Rothirsche bestätigt. Als ich nach meiner morgendlichen Pirsch dem heimatlichen Herd entgegenschlenderte, zog Kahlwild vor mir über einen breiten Sandweg, und wenige Minuten später verhoffte am Rand der Kieferndickung, wie ein Geist, statuengleich, minutenlang ein Hirsch. Je länger ich ihn betrachtete, desto stärker, vor allem älter, wurde er in meiner Fantasie. Dass reife Hirsche in der Feistzeit nicht beim Kahlwild stehen und auch nicht am hellen Vormittag umherziehen, wusste ich damals noch nicht. Nachdem auf knapp 40 Gänge Kimme und Korn zitternd auf das Blatt des Hirsches zeigten, die Kugel ihr Ziel trotz des Jagdfiebers fand, stand ich dann vor allem anderen als einem heimlichen, alten Feisthirsch. Mir klingt noch das Donnerwetter unseres Wildmeisters in den Ohren, und mir wurde eingebläut: Ein Rothirsch gilt als Feisthirsch, wenn er beträchtliche Fettreserven gebildet hat und zu fegen beginnt, bis er, durch Brunftwittrung angeregt, ohne festen Wechsel umherzieht. Bis dahin verlässt er seinen Einstand spätabends und zieht morgens so zeitig ein, dass man ihn selten bei Büchsenlicht zu Gesicht bekommt. Im wahrsten Sinne des Wortes frisst er sich eine Feistschicht an, verbringt träge, ohne sich mehr als notwendig zu bewegen, geschweige denn umherzuziehen, seine Tage in der Kühle des Einstandes, während die heiße Hochsommersonne auf das Land niederbrennt. Die Hirsche sammeln Reserven für die bevorstehende Brunft, die hohe Zeit des Rotwildes – und des Jägers.
Hat er gefegt und genügend Feist angesetzt, besteht kein so starkes Äsungsbedürfnis mehr wie im Frühjahr oder Vorsommer, wenn er besonders viel Energie benötigt, um sein Geweih zu schieben.
„Jetzt steht das Himmelsgestirn am höchsten, nun haben auch die Geweihe ihr Höhenwachstum vollendet“, hieß es früher zur Entwicklung des Bastgeweihs Ende Juni. Im Juli leiden Kolbenhirsche unter einer grauenhaften Plage, nämlich Stechfliegen, Mücken und ähnlichem Getier. Sie sitzen in unglaublichen Mengen auf den zarten Kolbenenden, um an dem blutgefüllten Gewebe zu saugen. Ununterbrochen schütteln die Hirsche dann das Haupt, und wie Rauchschwaden erheben sich die Quälgeister, um sich sofort wieder an derselben Stelle niederzulassen. Um vor dieser Plage Schutz zu finden, verbringen Basthirsche die Tage in der Schatten spendenden Dickung. Glück, Geduld und genaues Wissen um das Wild und dessen Einstände sind dann Voraussetzung, um einen reifen Hirsch zu erlegen. Nun ist der Juli vorüber. Bei der Jagd auf den Feisthirsch werden die Nächte wieder kürzer und mein Herz schlägt höher. Die ersten Vögel rüsten bereits zum Aufbruch nach Süden, die lärmenden Mauersegler haben uns schon verlassen. Die gelben Stoppeln wirken wie erste Vorboten des Herbstes, aber noch ist es nicht so weit. Die Bauern sind noch mit der Ernte auf den Feldern beschäftigt, aber auch für den Jäger ist der „Ernting“, der Monat August, Erntezeit. Ich glaubte bereits, es gäbe keine Hirsche im Revier, bis ich Anfang Juli auf der Eschenbahn ihre Fährten fand. Ein 4-köpfiges Feisthirschrudel hatte auch heuer seinen Einstand wieder im Jagen 24. Fährten auf dem breiten Sandweg zwischen dem Waldkomplex und den Feldern, ab und an auch mal eine frische Schäl-, Schlag- oder Fegestelle, hatten sie verraten, zu Gesicht bekam ich sie aber nicht. Auf Störungen reagieren alte Feisthirsche empfindlich, daher mied ich vorerst die Nähe des Einstandes.
Während ich Kahlwild und seinen Nachwuchs beobachte, bleiben die „Könige der Wälder“ unsichtbar. Sie sind wahrscheinlich nicht heimlicher als zu anderen Zeiten des Jahres, lediglich phlegmatischer, brauchen nicht weit zu ziehen, um den Pansen zu füllen. Die Speisekammer „Wald und Flur“ ist reichlich gefüllt. Feld und Wald bieten Äsung in Hülle und Fülle: Himbeer- und Brombeerranken, frische Gräser, Triebe und leckere Kräuter sprießen auf jedem Quadratmeter des Waldbodens. Die Hirsche verlassen die schützende Deckung der Abteilung 24 kaum, erst, wenn es stockdunkel ist, wechseln sie manchmal in die nahe Feldmark und vorm ersten Licht zurück in die Dickungen. „Es wächst mit der Äsung“, sagen die Jäger, wohl wissend, dass das Wachstum des Kolbengeweihs nicht unerheblich von der Ernährung des Hirsches abhängt, und die ist nun in fast jeder Form vorhanden.
Anfang August ist es brütend heiß. Nachdem es nach Regen aussah, die dunklen Wolken sich aber wieder verzogen, geht endlich ein wohltuendes Gewitter herunter, und ich hoffe, die Hirsche verlassen bei gutem Licht die nasse Dickung, um sich die Decke von der Sonne trocknen zu lassen.
Der Gesang einer Mönchsgrasmücke begleitet mich, als ich die Eschenbahn verlasse und in eine Rückeschneise einbiege, die zu einer Suhle im Jagen 24 führt. Nach der wochenlangen Dürre ist sie bis auf ein Viertel ihrer ursprünglichen Größe ausgetrocknet und gut angenommen. Hier will ich die Mittagsstunden verbringen. Ich bin guten Mutes, die Waldgespenster zu Gesicht zu bekommen.
„Diva“, meine Schweißhündin, trottet lustlos bei Fuß. Die starke Hitze der letzten Tage behagt ihr nicht. Sobald uns der Schatten des Waldes umfängt, wird die Hündin aufmerksamer, fühlt, dass wir uns nicht auf einem gewöhnlichen Spaziergang befinden, sondern auf Beute aus sind.
80, vielleicht auch 100 m pirschen wir auf der zugewachsenen Schneise in Richtung des Schlammlochs, da nehme ich eine Bewegung wahr. Durch das Fernglas erkenne ich nichts Außergewöhnliches, doch dann erscheinen über den wild durcheinanderwuchernden Stängeln und Stauden, Blättern und Büschen 3 „gekrönte Häupter“. Sofort werden sie wieder vom dichten Grün verschluckt. Umschwirrt von einer Wolke Ungeziefer, äsen im hellen Sonnenlicht kaum 50 Gänge entfernt,
3 Hirsche. Ab und zu reckt einer sein Haupt kurz hoch über das Gräsermeer, senkt es aber bald wieder tief in den Bewuchs, bevor ich sein Geweih ansprechen kann.
Eine leichte Brise weht mir entgegen, vertreibt Mücken und Fliegen. Von Hund und Jäger können die 3 also keinen Wind bekommen. Ich bin zu einer grünen Salzsäule erstarrt, lasse mich lautlos ins Gras sinken, gehe in eine „Down-Lage“, vor der jeder Hundeführer Hochachtung gehabt hätte, bin aber trotzdem nur spärlich durch hohe Halme gedeckt. Reglos, flach wie eine Flunder, liege ich auf dem Boden, warte auf den Augenblick, da alle Hirsche weiteräsen. Die Hündin liegt neben mir. Weil sie aus ihrer Warte das Wild nicht sehen kann, blickt sie gespannt zu mir.
Endlich tauchen alle 3 Hirsche ihre Äser wieder in das dichte Grün, selbst die hohen Geweihe verschwinden im Bewuchs, und ich kann mich etwas bequemer ausstrecken. Aber schon sind sie wieder da und sichern in die Runde. Ich erkenne durch die 8-fache Optik, wie abgerissene Grasbüschel Zug um Zug langsam in den Äsern verschwinden. Dicht an den Erdboden gekauert, nur den Kopf vorsichtig etwas nach oben über das Gras gereckt, das Glas vor den Augen, habe ich Muße, jedes Geweih zu betrachten. Haupt für Haupt schaue ich mir an. Die Stangen sind zum Teil gefegt, bei einem Eissprossenzehner hängen schweißige Bastfetzen am Geweih. Ich kann sogar Fliegen auf den hellen Kolben erkennen. 3 jüngere Hirsche, die nicht auf dem Abschussplan stehen, doch einer fehlt, ich hatte ja 4 gefährtet. So sehr ich mich auch anstrenge, mit meinen Blicken durch das Fernglas das grüne Gewirr zu entzaubern, der 4. Hirsch, wahrscheinlich der älteste des Rudels, bleibt unsichtbar. Ein Eichelhäher krächzt. Wieder werfen die 3 ruckartig auf, erstarren zu lebenden Standbildern. Nur die Lauscher gehen unruhig hin und her, der Windfang scheint unbeteiligt an dem Versuch, eine Gefahr zu orten. Akustische Störungen versuchen Wildtiere offenbar, nur mit dem Gehörsinn zu deuten.
Ich wage kaum zu atmen. Endlich senkt der erste Hirsch seinen Äser zurück in das Grün, verschwindet von der Bildfläche. Auch die anderen beginnen wieder zu äsen, werfen aber immer wieder unruhig auf. Nach bangen Minuten beruhigen sie sich schließlich, es liegt wieder tiefer Frieden über der Schneise. Geduldig warte ich auf den Vierten im Bunde. Über eine Stunde mag ich schon flach auf dem Boden gelegen und den kleinen Trupp beobachtet haben, da ziehen alle 3 gemächlich in die Dickung. Kurzes Stangenschlagen, ein paar trockene Zweige knacken, dann ist der Spuk vorbei, nicht einmal der Häher meldet sich. Vorsichtig pirschen wir zurück, um die Idylle nicht zu stören. Mein Hund aufrecht und bequem, ich tief geduckt, sodass mein Rücken schmerzt, bis wir uns mehr als 100 m von dem Feisteinstand entfernt haben und auch ich unsere Pirsch erhobenen Hauptes beenden kann.
Trotz aller Vorsicht musste der Alte etwas von uns mitbekommen haben, was sein Misstrauen erweckt, ihn nachhaltig vergrämt hatte. Ich habe ihn nicht wieder gefährtet, geschweige denn zu Gesicht bekommen, das Waldgespenst, das du nur ahnst und niemals kennst.
Autor: Gert G. von Harling