Blattjagd
Betagte Böcke
Richtig in die Jahre gekommene Böcke sind der Traum fast aller Lockjäger. Doch die machen sich meist sehr rar. WuH-Blattjagd-Experte Klaus Demmel verrät, wie es mit reifen und richtig alten klappt.
Bild: Michael Stadtfeld
Über die Jahrzehnte, in denen ich Gäste in unterschiedlichsten Revieren zur Blattjagd führte, war meist der reife Bock im Alter von 5 bis 6 Jahren das Ziel. Alles, was darüber war, galt als richtig alt. In der heutigen Zeit sieht es leider oft anders aus. Die Reviere sind kleiner, der Freizeitdruck ist gewaltig und die Rehwilddichte allgemein geringer geworden. Und dennoch gibt es sie noch fast überall, die, die im Verborgenen leben, die Uralten. Und es ist heute nicht anders als vor 40 Jahren, dass bestätigte Böcke mit etwa 6 Jahren scheinbar plötzlich vom Erdboden verschwinden. Sie sterben jedoch keinesfalls alle schlagartig eines natürlichen Todes, sondern verändern drastisch ihre Lebensweise. Aus dem einst kraftstrotzenden Platzbock wird ein im Verborgenen lebender Geheimrat.
Wenn es bei der Blattjagd speziell auf Alte geht, kursieren viele Weisheiten bzw. Meinungen. Ich selbst folge nicht blind irgendwelchen Mythen, sondern dem, was die Natur mich über die Jahrzehnte gelehrt hat. Natürlich kann man nicht alle Böcke – auch nicht die Alten – über einen Kamm scheren, denn auch Rehe haben unterschiedliche Charaktere. Zudem verändert sich deren Verhalten mit zunehmendem Alter. Ein weiterer grundlegender Faktor: Welche – vor allem schlechte – Erfahrungen hat der Bock in seinem bisherigen Leben bei der Blattjagd schon gemacht? Und ganz besonders wichtig zu wissen: Reif und alt sind 2 völlig unterschiedliche Paar Stiefel!
Der reife Bock steht körperlich auf dem Höhepunkt seines Lebens. Er zeigt ein dominantes Verhalten und besetzt meist einen qualitativ hochwertigen Einstand. Für gewöhnlich sieht man ihn auch zu gewohnten Zeiten auf angestammten Äsungsflächen, und er nimmt rege an der Brunft teil.
Die Strategie für den Reifen: Wer im Frühjahr beim Bestätigen seine Hausaufgaben gemacht hat, weiß zur Blattzeit, an welchen Einständen er welche Böcke zu suchen hat. Das ist schon einmal die halbe Miete. Am Jagdtag meide ich angestammte Stellen wie Hochsitze, von wo aus über Jahre hinweg geblattet wurde. Vielmehr versuche ich es immer an neuen Punkten, meist vom Boden aus. Vorher hergerichtete Blattstände sowie transportable Schirme leisten dabei gute Dienste. Grelles Licht meidet der erfahrene Bock, und schon der kleinste Windhauch in Richtung Einstand wird den Traum vom Reifen zunichtemachen. Auf dem Stand beginne ich als vermeintlicher Nebenbuhler mit Fegen und Plätzgeräuschen – übrigens ein klarer Vorteil des Bodenstands gegenüber dem Hochsitz. Nach kurzer Pause folgen die ersten Arien. Ich beginne verhalten und steigere mich von Serie zu Serie in Lautstärke und Intensität (Fiep, Rickenfiep, Sprengfiep, Geschrei und schließlich der Kitzfiep gemischt mit Kitz-Klagelauten). Nebenbei lasse ich mal feinere, mal dickere Äste knacken. Das soll Bewegungen des vermeintlichen Wildes simulieren. In den Rufpausen imitiere ich immer wieder Nebenbuhler mit Fege- und Plätzgeräuschen. Oft springt der in guter Kondition stehende Platzbock vehement innerhalb kürzester Zeit. Gegen Ende der Brunft, wenn der dominante Bock körperlich an seine Grenzen gelangt, darf die Musik durchaus lauter und anhaltender gespielt werden. Denn dann kommt es schon mal vor, dass der müde Chef etwas länger braucht, bis er sich zum Zustehen überreden lässt. I. d. R. endet die Brunft um den 10. bis 12. August. Allerdings wird so mancher Platzbock, je nach Kondition, nach ein paar Tagen Erholung nochmals agil und reagiert wieder aufs Blatt. Deshalb lohnt es durchaus, bis zum 25. August den einen oder anderen Versuch auf den reifen Bock zu wagen. Übrigens halte ich es für einen Mythos, dass der reife Bock erst gegen Ende der Brunft zusteht. Er wird jede sich bietende Gelegenheit nutzen, um sich zu paaren. Gerade zum Eingang der Brunft um den 25. Juli, wenn noch wenige weibliche Stücke brunftig sind, ist die Chance groß, auch ältere Böcke aufs Blatt zu erlegen.
Der alte Bock: Er hat den Zenit seines Lebens überschritten und baut fortan körperlich stetig ab. Seine Dominanz schwindet, und er muss seinen angestammten Einstand einem jüngeren überlassen. Sein neues Zuhause sind meist relativ kleine, unscheinbare Einstände von schlechter Qualität, oft am Rand der Haupteinstände. Sein Bewegungsradius und seine Brunftaktivität werden von Jahr zu Jahr weniger, wobei er letztere nie ganz aufgeben wird.
Die Strategie für den Alten: Die uralten Böcke vermuten zwar viele in ihrem Revier, bekommen sie jedoch so gut wie nie zu Gesicht. Wenn überhaupt, sind es Zufallsbegegnungen zu unmöglichen Zeiten. Rehwild ist von Haus aus generell Weltmeister im Versteckspiel. Doch das Verhalten der richtig Alten kann schon fast gespenstisch sein. Erste Adressen zum Blatten sind die besagten unscheinbaren Einstände. Die Methusalems fegen und plätzen zwar bei Weitem nicht so oft und intensiv wie dominante Böcke, trotzdem verraten solche Stellen auch den alten, heimlichen. Wenn möglich blatte ich vom transportablen Klappbock aus. Mit ihm bin ich flexibel und erreiche auch die letzten unscheinbaren Flecken im Revier. Im Gegensatz zur Jagd an Haupteinständen versuche ich, etwas näher an den vermeintlichen Alterssitz zu kommen. Richtig betagte Böcke wollen so wenig wie möglich Aufmerksamkeit auf sich ziehen und meiden weite Wege. Auf dem Stand wäre es fatal, mit der Tür ins Haus zu fallen. Es gilt: Weniger ist mehr. Fegen, Plätzen, Ästeknacken sowie aggressive Rufserien, wie Sprengfiep und Geschrei, bleiben außen vor. Es darf keinesfalls der Anschein erweckt werden, dass ein jüngerer, dominanter Artgenosse zugange ist. Relativ kurz gehaltene Rickenfiep-Serien mit eingestreutem Kitzfiep haben jedoch schon so manchen misstrauischen Alten zum Zustehen gebracht. Wenn es auf den Urian geht, sollte der Jäger auch genügend Zeit mitbringen. Zwischen den Rufserien sind längere Pausen von bis zu 10 min durchaus angebracht. Zudem dauert es gern auch bis zu einer Stunde, bis ein uralter mit schlechten Erfahrungen seinen Argwohn überwindet und zusteht.
Zurück zum 9. August. Der Klappbock war lautlos aufgebaut, das Tarnnetz sorgte für Deckung. Etwa 50 m vor mir lag nicht einsehbar eine der zugewucherten Rinnen. Der Wind passte, und nach etwa 10 min erklangen die ersten zarten Rickenrufe aus meinem Rottumtaler. Danach ließ ich mir viel Zeit. Nur noch vereinzelt erklangen Ricken- und Kitzfiep. Es mag eine Dreiviertelstunde vergangen sein, als ich eine kurze Bewegung wahrnahm. Zuerst dachte ich an einen auffliegenden Vogel, doch der Blick durchs Glas zeigte Haupt und Träger eines Bockes. Irgendwie sah er seltsam aus. Als er wenige Augenblicke später seine Deckung verließ, herrschte Klarheit. Mit tiefem Windfang suchte der noch zur Hälfte in der Winterdecke steckende Bock unverkennbar die Wittrung eines brunftigen Stücks. Ein solch spätes Verfärben bei gesundem Rehwild kannte ich bisher nur von markierten Ricken, die über 10 Jahre alt waren. Ohne einmal aufzuwerfen, zog er sehr langsam in meine Richtung. Seine Bewegungen wirkten wackelig, und die Lichter erschienen vergleichsweise riesig. Mein erster Gedanke: Dieser Bock ist krank. Kurz darauf beendete die .308 Win. dieses einmalige Erlebnis. Nachdem ich die Trophäe abgekocht hatte, stellte sich aber heraus: Der Bock, der gerade noch 12 kg auf die Waage brachte, war keinesfalls krank, sondern nur uralt. Ein Mitjäger meinte, dass es sich um den vermissten Höllbock handeln könnte. Der war schwach vereckt, hatte aber massige, extrem geperlte Stangen mit riesigen Rosen. Er war sehr markant und wurde über 6 Jahre im Haupteinstand unweit der Rinne bestätigt. Im 6. Jahr stand er zwar aufs Blatt zu, wurde vom Jagdgast aber eindeutig gefehlt. Von diesem Tag an ward er nicht mehr gesehen. Nach meinem Notizblock sind seit dem Schuss von damals 5 weitere Jahre vergangen. Eine Ähnlichkeit zum Höllbock ist unverkennbar, aber ob er es tatsächlich ist, weiß nur Diana.
Autor: Klaus Demmel