23.08.2023
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11 Min

WOLF – LUCHS – BÄR

Wenn Angst tötet

Sind große Beutegreifer im Revier, verändert Wild nicht nur sein Verhalten, auch die Auswirkungen auf den Bestand sind spürbar. Dr. Christine Miller hat recherchiert.

Wenn Angst tötet

Bild: Rafal Lapinski

Ein Wildtier kann nur einmal sterben: Es kann verhungern, an einer Krankheit zugrunde gehen, erlegt werden oder einem Raubtier zum Opfer fallen. Für das betroffene Wildtier ist es einerlei, aus welchem Grund es aus dem Leben scheidet. Und auch den meisten Revierinhabern oder Jagdbehörden ist es mehr oder weniger egal, unter welcher Rubrik sie das tote Stück auf der Strichliste der Abgänge verbuchen. Tatsächlich hat es jedoch weitgehende Konsequenzen für den Bestand und die Entwicklung einer Population, welche sogenannten Mortalitätsfaktoren in einem Revier, in einem Lebensraum auftreten. In der Praxis der Jagdverwalter, der Abschussplaner oder Nicht-mehr-Planer werden die ökologischen Zusammenhänge jedoch in der Regel vernachlässigt, da meist auch gar nicht bekannt. Dabei sind die Fakten inzwischen gut erforscht. Denn wenn Wolf und Luchs im Revier mitjagen, addieren sich nicht nur die Abgänge bei den Beutetieren durch Jäger und Räuber. Große Beutegeifer zwingen zu einer kompletten Umstellung der Jagdplanung und Jagdweise.

Wenn Wolf oder Luchs durchs Revier streifen, stellen sich ihre potenziellen Beutetiere sehr schnell darauf ein. Schließlich haben Jahrhunderte ihre Spuren im Verhaltensrepertoire von Reh und Hirsch hinterlassen. Grundsätzlich sind Wildtiere gut ausgestattet, mit ihren natürlichen Feinden zurechtzukommen. Jedoch nur dann, wenn sie in einer Welt leben, in der sie sich ihren Lebensraum nach Bedarf suchen können und nicht noch einem dritten, äußerst effizienten „Beutegreifer“ ausweichen müssen – dem Mensch.

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Die Anwesenheit des Wolfes lässtKahlwild deutlich häufiger und längersichern. (Bild: Klaus-Herbert Schröter)
Die erste Reaktion bei akuter Gefahr ist die Flucht. Je plötzlicher die Störung, je unübersichtlicher das Gelände, desto schneller und panischer wird ein Wildtier reagieren. Im Körper ist dazu eine Art Turbolader eingebaut: die Stressreaktion. Sofort wird die gesamte Physiologie auf Wahrnehmung und Bewegung ausgerichtet. Die Energiereserven werden mobilisiert, die Sinne geschärft. Damit das funktioniert, wird über eine Kaskade von Hormonen, die von verschiedenen Drüsen ausgeschüttet werden, der gesamte Stoffwechsel des Tieres umgestellt. Erreicht das Tier einen sicheren Einstand, kann es der Gefahrenzone entkommen, pegeln sich die Körpervorgänge wieder ein.

Doch die Flucht kostet zusätzlich Energie und umso mehr, je länger die Strecke, je steiler oder schwieriger der Weg und je mehr Schnee liegt. Doch anstatt jetzt schnell die Energiereserven wieder aufzubauen, ist das betroffene Tier in der Regel gezwungen, in weniger guten Einständen auszuharren. Und was, wenn auch dort Gefahr droht, wenn Störungen nicht mehr aufhören? Der Körper bleibt dann in dauerhaftem Alarmzustand. Sowohl im Verhalten wie in messbaren, körperlichen Veränderungen schlägt sich dieser Dauerstress nieder. Die Folgen sind weitreichend: mehr Hunger, mehr Nahrungsaufnahme, mehr Schäden, z. B. Schäle. Übrigens können auch gestörte Sozialstrukturen zu dauerhaft empfundenem Stress führen, mit den gleichen Konsequenzen. Lebensbedrohliche Vorfälle, eine Verletzung oder auch der hautnah erlebte Verlust eines Kalbes oder Kitzes können zudem lang- andauernde, manchmal lebenslange Auswirkungen auf das Gehirn haben und ähnlich wirken wie posttraumatische Belastungsstörungen beim Menschen. Furcht verändert auch Strukturen im Gehirn. Dort sitzt im Zentrum die Amygdala, in der Emotionen verarbeitet werden und in der auch eine Art „Furcht-Gedächtnis“ angelegt wird. Langfristig können diese Veränderungen auch auf die Nachkommen übertragen werden. Dauergestresste Mütter haben deutlich nervösere und weniger robuste Jungen.

Anders als menschliche Jäger sind Wolf und Luchs nicht schon von Weitem an einem Motorengeräusch oder Hundegebell erkennbar. Hirschkuh und Reh müssen daher immer wieder sichern und die Luft auf verdächtige Gerüche, Geräusche und Bewegungen absuchen. Das Sichern kostet Zeit. Zeit, die für Nahrungssuche, für das Äsen und für das Verdauen fehlt. Vor allem bei wiederkäuenden Pflanzenfressern bringen Störungen, dadurch ausgelöste Ortswechsel und Fluchten die Verdauungstätigkeit durcheinander. Im schlimmsten Fall kann die Störung der Pansenaktivität auch zu Übersäuerung des Pansenmilieus führen. Beim Aufschluss von Kohlehydraten im Pansen werden flüchtige Fettsäuren erzeugt, die den Panseninhalt immer saurer werden lassen. Durch das Wiederkäuen wird Speichel abgeschluckt, der den pH-Wert im Pansen abpuffert. Wird Wild beim Wiederkäuen immer wieder aufgemüdet, wird der Panseninhalt immer saurer. Um das zu kompensieren und die Schmerzen durch Übersäuerung zu lindern, nehmen sie dann gezielt Baumrinde oder tanninreiche Pflanzenteile auf.

Ein Mittel, die Kosten für Wachsamkeit zu reduzieren, liegt im Zusammenschluss zu größeren Gruppen. Viele Lichter sehen eben mehr. Das einzelne Tier muss weniger Zeit für Sichern und Aufmerksamkeit aufwenden, allerdings zum Preis erhöhter innerartlicher Konkurrenz oder der Übernutzung kleiner, konzentrierter Einstände. Daher lieben potenzielle Beutetiere den Überblick, damit sie nicht so leicht überrascht werden können. Rotwild entwirft eine ganz neue Landkarte der Raumnutzung, wenn Wölfe in ihrem Lebensraum auftauchen. Wie von der Natur vorgesehen, bevorzugen sie dann offene Einstände und nicht mehr Dickungen und geschlossene Wälder. Doch auch Wölfe passen sich laufend an die veränderte Habitatnutzung ihrer Beutetiere an, genauso wie an die Häufigkeit von menschlichen Störungen und das Wege- und Straßennetz, das ihnen die Jagd und Fortbewegung erleichtert. Die Größe und die Verteilung von Wolfsrudeln wandeln sich daher, wie die sehr detaillierten und langfristigen Studien zu den Wölfen im Yellowstonegebiet zeigen.

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(Bild: Grafik: Kauffman et al 2007)
Fazit: Das Jagdverhalten von Wölfen ist eine Funktion der Kulturlandschaft und der Menschen darin ebenso wie die Einstandswahl und das zeitliche Verhalten des Rotwildes. So kann die Rudelgröße bei Rotwild zu- oder bei fehlendem Offenland auch abnehmen. Es werden teilweise ganz neue Einstände und auch zu anderen Tageszeiten genutzt. Auch die Rudelstrukturen können sich ändern. Leichte Beute sind Kälber, krankes Wild und alte Tiere, aber eben auch erschöpfte Hirsche nach der Brunft. Und wo keine Rücksicht auf diese notwendigen Anpassungen der Beutetiere genommen wird, wird deren Dauerstress auch zu erhöhter Krankheitsanfälligkeit und reduzierter Fortpflanzungsrate führen. Das wurde beim amerikanischen Rotwild im Yellowstone deutlich. Die Zuwachsrate der Population sank drastisch unter den Wert, der vor Ankunft der Wölfe in dem Gebiet gemessen wurde. Dies eben nicht nur, weil nun mehr Hirsche starben, indem sie gerissen wurden, sondern aufgrund der zusätzlichen Faktoren (Furcht, andere Einstände, Stress etc.).
 
Die Wachsamkeit von Rehen verändert sich je nach Anwesenheit und Aktivität von Luchsen. In der Dämmerung, wenn Luchse vermehrt aktiv sind und sobald Rehe auf Markierungsstellen von Luchsen treffen, sichern sie häufiger und suchen Einstände auf, die Überblick bieten. Andererseits verringern sie – mit Ausnahme der Blattzeit, in der die Böcke von Natur aus einen größeren Aktionsraum haben – ihre Raumnutzung in Zeiten hohen Jagddrucks. Da außerdem die Einstände, die Rehwild aufsucht, um vor menschlicher Bejagung sicherer zu sein (keine Nutzung von Freiflächen), genau die Einstände sind, die ein höheres Risiko bergen, dort von Luchsen gerissen zu werden, bringt die Jagd des Menschen die Rehe in eine Zwickmühle und führt zu höheren Verlusten durch den Luchs. Diese Verluste sind größer als die reine Addition von Rissrate und Rehwildstrecke in getrennten Gebieten. Man spricht von einer sogenannten „super-additiven Verlust­rate“. In den untersuchten Gebieten, z. B. in der Schweiz, sind die Jagdzeiten nur auf wenige Wochen beschränkt, sodass dort der Effekt deutlich zutage tritt.
 

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Der Luchs überrascht seine Beute imdunklen Einstand. Je mehr Rehe durchäußeren Druck dort verweilen, destogrößer die Chancen der Katze. (Bild: Horst Jegen)


Wird dauerhaft auf Rehe Druck gemacht, steigt der Einfluss auf das Verhalten und die Ausprägung dauerhafter Stressreaktionen, was letztendlich zu deutlichen Einbrüchen in der Rehpopulation und der menschlichen Rehstrecke führen kann. Der Einfluss von Luchsen auf eine Rehpopulation muss daher großräumig und im Jahreslauf gesehen werden. Das durchschnittliche Streifgebiet eines Luchses ist groß, zwischen 7 200 und 22 100 ha, ein Kuder kann bis zu 36 000 ha im Laufe eines Jahres als sein Jagdgebiet betrachten. Doch eine Katze, die Junge führt, muss sich zwangsläufig in ihrem Aktionsraum einschränken. Während im Durchschnitt bei einem Kuder etwa 12 bis 20 km zwischen 2 aufeinander folgenden Rissen liegen, sind es bei einer Luchsin ohne Junge etwa 6, mit Jungen dagegen im Schnitt nur noch 2,5 km. Gleichzeitig ist ihr Nahrungsbedarf höher und liegt bei bis zu 7 kg ab November, wenn auch die Kleinen merkbaren Appetit haben. Wird der Jagddruck durch den Menschen hier nicht entsprechend zurückgefahren, kann auch die Rehpopulation diesen Druck nicht mehr aushalten. Das geht umso rasanter, je weniger produktiv die Landschaft für das Rehwild ist. Daher kann den Luchs nur erhalten, wer sorgfältig auf die Zuwachsraten seiner Rehpopulation achtet. Etwas, das in Deutschland unüblich bis verpönt ist.
 

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Die schwarzen Punkte zeigen die gemeldeten Rehe, die von Luchsen gerissen werden (b) und das Verhältnis von gemeldeten Luchsrissen und der natürlichen Mortalität (d).Die grauen Flächen markieren die Jagdzeit, die rote Linie modelliert den Verlauf der Luchsrisse, wie sie ohne Jagd aufgetreten wäre. (Bild: Grafik: Gehr et al. 2017)
Heinrich Moser hat versucht, Rehe und Luchse in den Revieren seines fast 10 000 ha großen Hegerings mit Fotofallen zu dokumentieren. Mit 60 Wildkameras hat er in 32 Revieren 8 Jahre lang Rehe und Luchse aufgenommen. Seit dieser Zeit wurde der Abschussplan für Rehe nicht reduziert. Er stellte fest, dass anfangs der Luchsbestand zunahm und auch die Risszahlen stiegen, während die Abschusszahlen kontinuierlich zurückgingen. Inzwischen werden auch weniger Luchse auf den Fotofallen gesichtet. Möglicherweise erweitern die Luchse ihre Aktionsradien oder verlagern sie ganz, wenn eine Luchsin nicht mehr genügend Beute auf kleinerem Raum ­findet, um ihre Jungen zu versorgen. Es genügt also nicht, gefundene Risse oder angenommene Beuteraten einfach von der Jagdstreckenplanung abzuziehen.

Diese Gleichung geht nicht auf, weil sie die zusätzlichen Auswirkungen von Beutegreifern auf die Beutepopulationen außer Acht lässt. Zusätzlich steigt die Rissrate von Wölfen, Luchsen und anderen untersuchten Raubtieren, wenn das betroffene Gebiet von Menschen stark beeinflusst wird. Nicht nur die Beutetier­bestände können sich dann nicht auf das zusätzliche Risiko einstellen. Auch die Wölfe oder Luchse müssen mehr Beute schlagen. Anstatt ein einmal gerissenes Tier über längere Zeit komplett zu nutzen, können sie dann nicht über mehrere Tage an einen Riss zurückkommen. Zwangsläufig muss ein weiteres Tier gerissen werden. Der Wolf mit seinem großen Nahrungsspektrum kann es in der Regel kompensieren, wenn die Schalenwildpopulation zusammenbricht. Er weicht dann auf andere Arten, wie Weidevieh aus. Der Luchs mit seinem ­engeren Nahrungsspektrum ist gezwungen, das ­Gebiet zu verlassen. Der Revierinhaber hat diese Möglichkeiten nicht.

Autor: Dr. Christine Miller