Rumänien
Karpaten-Traum
Jagd ist Spannung, aber auch Emotion. Selten genug öffnen sich Jäger in ihren Erzählungen. Der Autor dieses Artikels tut es. Er erbeutet seinen Lebenshirsch!
Bild: Ralf Bonnekessen
Meine Finger zittern, tasten nach dem Äser. Ich ziehe eine Grandel aus dem Oberkiefer. Sie hing nur noch an ein paar Hautfetzen. Ich betrachte sie in der September-Sonne. Hier oben, am höchsten Punkt weit und breit. Ein Speichelfaden zieht sich von der Grandel zum Äser. Er glitzert in der Sonne wie ein Spinnweben. Der Griff in den Kiefer: keine richtigen Zähne mehr, nurmehr eine fühlbare Kauleiste. Die Schneidezähne hängen nur noch lose im Unterkiefer. Was für ein Urian! Wie klein ich mich plötzlich neben dem König der Karpaten fühle. Alles strahlt. Ich durch ihn.
Ich habe nie einen Hirsch so „schön“ fallen sehen. Jäger werden wissen, was ich meine. Es ist in keiner Weise despektierlich oder gar anmaßend gemeint. Dieser Hirsch fiel nach dem Schuss auf den Stich wie ein gigantischer Baum zu Boden. Ein unglaubliches Bild unter Wetterbedingungen, die man nicht besser hätte malen können. Aber das sehen Sie sich besser selbst an.
Ich habe meinen Hirsch damals nicht bekommen, und Jagdvermittler Egon Merle war so freundlich, mir eine weitere Chance in den Karpaten zu geben. Es hat ein bisschen gedauert, aber im September 2022 war es soweit:
So wie Rumänien sich heute anfühlt, so stelle ich mir Deutschland in den 1950er- oder 60er-Jahren vor. Straßen sind baufällig, Pferdefuhrwerke begegnen einem überall. Vieh läuft mitten auf der Straße. Kein Hirte, der sie treibt oder führt. Sie wissen von allein, wo sie hin müssen. Auf dem Land sieht alles nach Mühe aus. Wenige oder gar keine Maschinen arbeiten hier. Stattdessen Handarbeit, bäuerliche, körperlich schwere Arbeit. Etwas, das wir so nicht mehr kennen. Kein Manufactum oder Landlust, schlichtweg Land.
Die Einfachheit berührt mich tief. Was der Städter in Findungsseminaren oder auf der Couch teurer Therapeuten zurückzuerobern sucht, hat man hier nie verloren. Nicht wissentlich. Es ist das harte Leben, das einfache Leben, das einem hier überall begegnet. Natürlich nur hier auf dem Land. Die Städte sind wie alle Städte. Und vielleicht schwingt hier auch viel Romantik mit. Aber gerade ich als Jäger suche ja immer wieder das Einfache. Die schönsten Jagden sind eine Waffe, ein Messer und ich. Mehr nicht. Was für eine herrliche Vorstellung. Das kann man hier haben, in Rumänien, wenn man will. Ansonsten bekommt der Jagdgast natürlich alles, was er möchte. Wir wohnen in einem Gästehaus des staatlichen Forstunternehmens an einem Forellenhof. Das Geräusch des sprudelnden Wassers begleitet uns während unserer Woche hier in Borca.
Das Ursprüngliche suchen
Die Hirsche hier kennen keinen Wildacker, keinen Rückzugsort. Hier herrschen andere Gesetze. Wer den harten Winter überlebt, sieht sich Luchs, Wolf und Bär gegenüber. Eine kleine Verletzung, eine kleine Beeinträchtigung der Physis entscheiden zwischen Wohl und Wehe. Und das Tag für Tag. Das Gesetz des Stärkeren ist unbarmherzig. Jeder gegen jeden. Keine Allianzen, kein Pardon, die kleinste Schwäche bedeutet den sicheren Tod. In dieser Umgebung könnte man tagelang umherirren, ohne auch nur ein Haar gesehen zu haben.
Aber eines wird dem König der Wälder dann möglicherweise zum Verhängnis: Sein Ruf. Im goldenen Herbst verrät er ihn, seinen Standort. Ist die Brunft still, bleibt die Büchse kalt. Man sieht nichts, wenn man nichts hört. Nur der weithin hallende Brunftlaut verrät den Hirsch. Und so steigen wir tapfer bergauf. Michai, unser Jagdführer, vorneweg, gefolgt von Thomas, mir und Kameramann Paul.
Es ist noch dunkel, aber die ersten Rufe der Roten haben wir gehört. Vier Hirsche hören wir an diesem Morgen melden. Eine Wonne, in diesem Konzert aufzusteigen. Langsam, Schritt für Schritt, pirschen wir bis zum Ende einer Rückegasse. Danach geht es über in einen schmalen Pfad, mehr ein Wechsel. Langsam dämmert es, und wir erahnen unsere Umgebung. An einer kleinen Talkante pirschen wir durch den Hochwald, den Blick immer in das lichte Tal hinein. Vielleicht 300 Meter können wir einsehen.
Erster Kontakt
Wir pirschen weiter, 50 Meter näher. Wieder: „schnell gucken, schnell schießen!“ Meine Anspannung steigt. Wir sehen nichts, also näher. Wieder 50 Meter. Jedes Mal lege ich die Mauser auf‘s Vierbein und spanne sie. Mit jedem Mal wächst auch meine innere Anspannung. Ich habe die Erinnerung im Kopf, hier auch eine Woche ohne Schusschance verbracht zu haben.
Wir stehen im Fichtenaltholz und haben die Kuppe überwunden. Gehen wieder bergab. Die Schreie des Hirsches lassen mich erzittern. Die Anspannung ist unserer kleinen Gruppe anzumerken. Dann hat Thomas den Hirsch ausgemacht. „Guter Hirsch“, sagt er. „Starker Hirsch.“ Michai wie gewohnt: „schnell gucken, schnell schießen.“ Ich habe ihn noch nicht einmal gesehen. Aber ich bin wild entschlossen. Mir soll es nicht so gehen, wie vor Jahren.
Der Schuss bricht, der Hirsch steht. Ich repetiere die nächste 8 x 57 ins Lager. Erst jetzt springt er ab. Das Kahlwild hatte sich in Bewegung gesetzt, der Hirsch hinterher. Völlig gesund. Gott sei Dank! Alle sehen mich an. Ich weiß, was passiert ist, will es aber noch nicht wahrhaben. Ich habe eine Chance genutzt, die gar keine war. Ich habe das Vierbein nur als Zweibein benutzt. Habe in einer Lücke geschossen, in der Paul noch gar keine Aufnahme machen konnte. Und das passiert ausgerechnet mir? Als Kameramann weiß ich doch genau, welche Bilder wir brauchen. Welche Chancen die Kamera einfangen kann und welche nicht. Ich habe versagt, auf ganzer Linie. Ich merke, wie mir die Farbe aus dem Gesicht schwindet, als Thomas mich ansieht. Wir ringen beide um Fassung, nur von völlig verschiedenen Seiten. Es ist genau das passiert, was eben nicht passieren durfte.
Nachdem wir am Anschuss waren und Michai auch noch ein ganzes Stück weiter gesucht hat, treten wir den Rückzug an. Ich trotte den anderen hinterher. Jeder denkt für sich, geht für sich, ist für sich. Die Gruppe ist in denkende Individuen zerfallen.
Ich brauche zwei Tage, um mit mir im Reinen zu sein. Krönchen richten und aufstehen. Das sagt sich so leicht. Ich tue mich schwer damit. Nach einiger Zeit im Wald − Pirschen und Laufen hilft tatsächlich beim denken − kann ich mir selbst verzeihen. Ich bin wieder bei mir. Denke nicht mehr, sondern handle, wie ich es für richtig halte.
Nur noch sichere Schüsse!
Mittlerweile hat Mitjäger Sven seinen Hirsch mit Jagdführer Dan erlegt. Einen reifen Karpatenhirsch, unglaublich stark im Wildbret. Ich kann mich nicht erinnern, einen solch‘ starken Träger bei einem Hirsch je gesehen zu haben.
Michai hat sich bei unserem ersten Pirschgang verletzt, auch das noch! Deswegen pirschen wir mit Stephanel. Aber schließlich ergibt es sich, dass auch wir mit Dan gehen. Ich kenne ihn noch von damals. Er hat Hans Jörg geführt. Und wir waren einige Male draußen, um meinen Hirsch zu finden. Jetzt also wieder. Es ist ein herrlicher Morgen. Wir hören einen Hirsch vielleicht 200 Meter vor uns. Wir sind nahe der höchsten Stelle des Reviers. Pirschen einen alten Rückeweg entlang. Haben wir 100 Meter gut gemacht, hört sich der Hirsch immer noch gleich weit weg an. Wir laufen sein Tempo. Es ist wie verhext. Sind wir zu laut? Ist es der Wind? Nichts von alldem. Es ist einfach wie es ist. Nicht verzagen. Einfach weiter, nicht zweifeln, immer weiter.
Thomas versucht, das Vierbein aufzustellen. Wir pirschen durch kniehohes Heidekraut. Er muss den Stock hin und her bewegen. Zu viel Bewegung, denke ich noch. Wieder ein „Oh“. Dan will weiter, glaubt ihn zu spüren. 30 Meter schaffen wir vielleicht noch. Dann bleibt er stehen, blickt angestrengt an den jungen Fichten hinunter. Thomas stellt den Stock erneut, ich lege die Waffe auf.
Dann entdecke ich ein einzelnes Alttier. Es zieht in eine kleine Fichtenlücke, vielleicht 80 Schritt entfernt. Völlig unbekümmert. Es bekommt keinen Wind, denke ich. Ich richte die Waffe auf diese Lücke aus. Das Alttier hält es aus, zieht langsam weiter, verschwindet äsend links hinter den Fichten. Ich warte, die Mauser ist längst gespannt, der Finger am Abzug. In die Lücke schiebt sich der Urian. Hoch ragen seine Stangen nach oben. Ich habe nur den Blick für den Wildkörper. Ein Fichtenast ragt über das Blatt. Der Hirsch zieht in die Lücke und sichert sofort zu uns nach oben. Er hält inne, verhofft, scheint zu rätseln, was er eräugt.
Der Traum geht in Erfüllung
Dieses Mal bin ich mir meiner Sache sicher. Was für ein Gefühl! Die Anspannung weicht dem wohligen Gefühl der Gewissheit: Alles war richtig. Alles ist gut. Wir liegen uns in den Armen, können es kaum glauben. Alle Zweifel, alle Vorbehalte, alles ist weg. Alles ist nun gut.
Als wir uns dem Hirsch nähern, ragt eine unglaubliche Krone aus der hohen Vegetation. Der Recke ist gefallen, hat sich verstrickt im hohen Gras. Die Krone zeigt in meine Richtung. Erst jetzt werde ich der Ausmaße gewahr. Dieser Hirsch ist mein letzter Hirsch. Er überragt alles. Er ist in diesem Moment alles für mich. Er ist der Wendepunkt in meinem Jägerleben. Er ist ein kleiner Tod, eine erfüllte Sehnsucht, die übererfüllt wurde. Ich bin voll von diesem Erlebnis. Ich bin trunken vor Glück und weiß nicht, wohin mit meinen Gefühlen.
Wer einen Karpatenhirsch erlegen möchte, hat es nicht nur auf die Trophäe abgesehen. Vielmehr steht das Erlebnis, die raue Natur und die Herausforderung im Vordergrund, sich diesen Königen der rumänischen Wälder auf Schussdistanz zu nähern. In dieser Umgebung ist der Jäger körperlich und geistig gefordert. Es sind aber auch seine weidmännischen Fähigkeiten gefragt.
Spezialisten in Sachen Karpaten-Hirsch sind Egon Merle und sein Sohn Thomas. Sie haben mit ihrem Jagdreiseunternehmen Merle Jagdreisen (www.merlejagdreisen.de) zahlreiche gute Reviere unter Vertrag. Der Karaptenhirsch ist nicht unbedingt endenreich, zeichet sich dafür aber durch Stangenlänge und Gewicht aus. Für Kenner das Sinnbild einer guten Hirsch-Trophäe! PD
Autor: Ralf Bonnekessen